Technikphilosoph & Bastler: TU-Professor Irrgang lebt und arbeitet inmitten Dutzender Segelschiffmodellen, die ein Kapitel Menschheitsgeschichte erzählen
Dresden, 19. Februar 2016. Der Dresdner Technikphilosoph Bernhard Irrgang lebt davon zu denken, zu lesen, zu schreiben und auch zu lehren. Besucht man ihn aber daheim, in seiner Bauhaus-Villa am Loschwitzer Elbhang, sieht der Besucher sofort, was sich der Philosoph als Ausgleich für die geistige Arbeit gesucht hat. „Schon als Kind wollte ich Kapitän werden“, sagt er – und die Konsequenz dieser Sehnsucht füllt inzwischen ganze Räume: Die Zimmer sind mit wunderschönen Schiffsmodellen vollgestellt, inmitten derer Irrgang in all seiner unübersehbaren Präsenz wie ein erfolgreicher Reeder thront. Einige sind meterlang, andere kaum größer als Spielzeug. Einige hat Irrgang von Grund auf selber gebaut, andere „nur“ auf eBay als Wracks ersteigert und dann repariert. „Für die größeren Holzmodelle brauch ich gut und gerne 1000 Stunden, um sie zusammenzubauen“, erzählt er.
Franzosen kreuzen drohend neben Holländern
Holländische Koggen kreuzen bei ihm im Arbeitszimmer neben französischen Linienschiffen, die mit all ihrer Takelage und ihren drohenden Kanonenreihen noch heute furchterregend wirken. Hier glänzt ein prachtvolles Flaggschiff, da hat ein Amerikaner die Segel gehisst. Ein fernöstliche Dschunke wartet bereits darauf, endlich in die Werft zu kommen. An die 50 Modelle werden es mittlerweile wohl sein, schätzt Irrgang. „Als Kinder haben wir mit dem Basteln angefangen: Mein Bruder eher Flugzeugmodelle, bei mir waren es die Schiffe“, erzählt der mittlerweile 62 Jahre alte Professor de TU Dresden. Dann verdrängten Studium und Karriere das Hobby auf Jahrzehnte. Vor einziger Zeit, als er längere Zeit krank war, habe er aber wieder mit der Schiffsbastelei angefangen.
Auch ein Spiegel der europäischen Expansion
Und wie es sich für einen guten Philosophen gehört, sind seine Schiffsmodelle ideell über den Wert als Spielzeug eines Kindes weit hinausgewachsen, sind für Irrgang auch Sinnbild seiner Forschungen. Und in denen beschäftigt sich der Philosoph, Theologe, Indologe und Germanist auch mit strategisch-historischen Fragen: Warum ausgerechnet die Europäer an der Wende vom (europäischen) Mittelalter zur Neuzeit weltweit auf Expansionskurs gingen, zum Beispiel. Oder weshalb es ihnen gelang, ab dem 15. Jahrhundert die jahrhundertelang nautisch führenden Völker wie die Chinesen oder die Araber zu überholen. Und diese schiffstechnologischen Entwicklungen über die Jahrhunderte hinweg spiegeln eben all die Schiffe, die in Irrgangs Arbeitszimmern kreuzen.
Wär Cheng Ho weitergesegelt, wäre Menschheitsgeschichte vielleicht anders verlaufen
„Als nächstes will ich die Dschunke des chinesischen Admirals Cheng Ho bauen“, erzählt Professor Irrgang. „Die steht nämlich für eine ganz besondere Geschichte.“ Dieser Admiral war im Auftrag seines Kaisers im 14. Jahrhundert – also noch vor den großen europäischen Eroberungsfahrten – mit einer Riesenflotte von 300 Schiffen gen Westen aufgebrochen. In mehreren Reisen erschloss Cheng Ho neue Handelspartner für China. Schließlich umsegelte es der Admiral sogar das Kap der guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas. Schließlich aber musste Cheng Ho kehrt machen, weil für China wieder die mongolische Gefahr auf dem Landweg wuchs und der neue Kaiser andere Prioritäten setzte. Und an dieser Stelle philosophiert Irrgang über ein „Was wäre wenn…“-Szenario: „Wäre Cheng Ho damals, vor der europäischen Expansion, weitergesegelt bis nach Europa und das mit seiner riesigen Flotte aus Schiffen, die den europäischen damals deutlich überlegen waren … Wer weiß, vielleicht wäre die Menschheitsgeschichte dann anders verlaufen.“
Autor: Heiko Weckbrodt
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