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Immer mehr Crystal-Babys

Crystal breitet sich wie eine Seuche aus. Etwa jeder dritte User wird schon nach dem ersten Mal von der synthetischen Droge abhängig, schätzten Ärzte ein. Foto: Heiko Weckbrodt

Crystal breitet sich wie eine Seuche aus. Etwa jeder dritte User wird schon nach dem ersten Mal von der synthetischen Droge abhängig, schätzten Ärzte ein. Foto: Heiko Weckbrodt

Dresdner Geburtsklinik-Direktorin Wimberger: „Crystal-Problem hat extremst zugenommen“

Dresden, 18. November 2015. Mediziner in Sachsen müssen immer häufiger Schwangere und deren Babys behandeln, die von der Synthetik-Droge Crystal abhängig sind. „Das Crystal-Problem hat extremst zugenommen“, schätzte die Gynäkologin Prof. Pauline Wimberger ein, die im Universitätsklinikum Dresden die Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe leitet. In diesem Jahr werde die Klinik wohl insgesamt rund 40 Neugeborene mit Crystal-Symptomen haben, sagte sie während einer Diskussion über „Die Droge Crystal Meth“, die der Rotary-Club „Goldener Reiter“ gestern Abend in der Dresdner „Motorenhalle“ des Vereins „riesa efau“ organisiert hatte.

Kinder kommen mit Entzugserscheinungen zur Welt

Laut Wimbergers Schätzung hat sich die Zahl der Crystal-abhängigen Mütter, die zur Entbindung ins Uniklinikum kommen, in wenigen Jahren verzehnfacht. „Diese Schwangeren haben extremen Schmerzmittelbedarf“, sagte die Professorin. Oft seien die Mütter auch außerstande, sich nach der Geburt um ihre Kinder zu kümmern. Als eine der typischen Folgen von langem Crystal-Konsum gilt völliger Empathieverlust. Das heißt: Einige Crystal-Mutter agieren wie emotionale Zombies, können keine herzliche Beziehung zu ihren Kindern aufbauen. Und viele der Babys kommen schon mit der Drogenabhängigkeit der Mutter zu Welt, haben starke Entzugserscheinungen gleich nach der Geburt, teils auch Organschäden.

Einst als Panzerschokolade bekannt: Kämpfen bis zum Umfallen

Crystal ist eigentlich schon seit Jahrzehnten als aufputschende und gefährliche Droge bekannt, wurde beispielsweise im II. Weltkrieg von Soldaten („Panzerschokolade“) eingeworfen, um bis zum Umfallen kämpfen zu können. Das Heimtückische daran: Wer diese Synthetikdroge nimmt, ist für Außenstehende lange nicht als Abhängiger zu erkennen. Der Konsumenten bemerkt anfangs nur positive Effekte, wird aber oft schon nach der ersten Dosis abhängig.

„Körper im Ausnahmezustand“

„Crystal versetzt den Körper in einen Ausnahmezustand“, weiß Suchtberaterin Barbara Hoffmann von der Diakonie Dresden. Wer die Droge einwirft, spürt zunächst pures Glück, keinen Schmerz, keinen Hunger, keinen Durst, fühlt sich danach, Bäume auszureißen. „Das Selbstwertgefühl geht durch die Decke“, gibt Hoffmann aus vielen Berichten Süchtiger wieder. „Wer bis dahin zu schüchtern war, in die Disko zu gehen und das andere Geschlecht anzusprechen, bei dem fallen all diese Hemmungen.“ Zudem gilt Crystal als Sexdroge und als das am schnellsten wirkende Antidepressivum überhaupt.

Runterkommen ist umso grausamer

Das „Runterkommen“ ist dann umso grausamer: Schwindet die Drogenwirkung, ergraut die Welt, erscheint plötzlich wie ein Tal des Schreckens oder der Tristesse. Viele User schrauben sich daher ganz schnell in einen lebensgefährlichen Crystalkonsum herein.

Psychosen, Gedächtnisverlust und Organschäden folgen schleichend

Die ganze Kehrseite offenbart sich den Anhängigen erst spät, oft zu spät: Irgendwann sind alle Glücks-Botenstoffe im Nervensystem ausgeschüttet und erschöpft. Viele Nutzer schlittern dann in schwere Depressionen beziehungsweise Psychosen hinein. Die meisten Abhängigen können sich nicht mehr konzentrieren, haben Gedächtnisstörungen. Andere kämpfen mit Hautschäden („Crystal-Akne“), Zahnproblemen, Magengeschwüren. Manchmal kommt es auch zu Herzinfarkten, weil das Blutgefäßsystem bei Crystal-Usern schneller altert.

Polizei und Suchtberater: Wir kennen nur die Spitze des Eisberges

Wieviele Menschen in Sachsen von Crystal abhängig sind, weiß keiner so genau. Drogenberater und Polizisten sind sich aber sicher, dass die paar Hundert Junkies, die in ihren Statistiken auftauchen, nur die Spitze des Eisberges darstellen. „Die Dunkelziffer dürfte hoch sein“, meint beispielsweise Kristin Ferse, die Suchtbeauftragte der Stadt Dresden.

Vietnamesische Crystalköche sitzen kurz hinter tschechischer Grenze

Im Grundsatz gut bekannt ist sogar, wo die Drogen gekocht wird, auf welchen Wegen sie sich zunächst in Sachsen und von hier aus inzwischen immer weiter verbreitet: „Fast alle Crystal-Labore sind in vietnamesischer Hand und befinden sich kurz hinter der tschechischen Grenze“, weiß der Dresdner Staatsanwalt Till von Borries. Das bestätigt auch der Rauschgift-Experte Detlef Lenk von der Polizeidirektion Dresden: „Soviel wir wissen, gibt es derzeit in Sachsen keine eigenen Crystal-Küchen, die sind alle in Tschechien.“ Wo genau diese Labore versteckt sind, ist aber eben nicht ganz klar.

Handel immer noch in Asia-Märkten, Weitervertrieb gen Sachsen in deutscher Hand

Hauptumschlags-Platz für das frischgekochte Crystal sind – trotz einiger Razzien in jüngerer Vergangenheit – immer noch die Asia-Märkte direkt hinter der Grenze. Oft holen sich Süchtige dort den Stoff selbst ab: Sie fahren mit der S-Bahn, mit dem Fahrrad oder mit anderen Verkehrsmitteln über die grüne Grenze ins Nachbarland. Dort kaufen sie in den Asia-Märkten aber nicht nur für den Eigenbedarf, sondern jeweils auch eine größere Handelsmenge, die sie später in Wohnungen, Casinos und Diskotheken in Dresden, Leipzig oder anderen Städten gewinnbringend verticken, um den eigenen Konsum zu finanzieren. Ein Großteil des Crystal-Handels in Sachsen ist also in deutscher Hand – aber kaum bandenmäßig organisiert.

Banden schalten sich in überregionalen Handel ein

Dafür nimmt inzwischen aber der überregionale Crystal-Handel immer straffer organisierte Züge an, bestätigte Detlef Lenk von der Polizeidirektion auf Oiger-Anfrage. Ein Grund dafür: Die Nachfrage für die Synthetikdroge kommt mittlerweile aus dem ganzen Bundesgebiet, seit einiger Zeit auch aus Skandinavien. Und mit Crystal können die überregional agierenden Zwischenhändler – anders als in Sachsen selbst – enorme Renditen erzielen.

Bis zu 1000 Prozent Rendite

Denn die Preise für die (recht einfach kochbare) Synthetikdroge sind in der Nähe der Quelle enorm gesunken: Kostete das Gramm Crystal im grenznahen Raum noch vor ein paar Jahren rund 50 Euro, ist es heute für 10 bis 13 Gramm an der Quelle in Tschechien zu haben, in Sachsen ist der Straßenpreis auf 35 bis 40 Euro gesunken. In Westdeutschland kann ein Dealer bereits 70 Euro für das Gramm verlangen, in Skandinavien gar 110 Euro. Spricht: Renditen von bis zu 1000 Prozent sind durchaus drin – wenn sich der Dealer nicht erwischen lässt.

15 Gramm reichen in Sachsen als Haftgrund

Hinzu kommt: In Sachsen haben Polizei, Ärzte und Suchtberater zwar inzwischen einige Erfahrung mit Crystal, versuchen die Staatsanwälte, Crystal-Delikte schnell und hart zu verfolgen. Schon eine Tüte mit 15 Gramm genügt hier, um einen ertappten Kurier in die Haft zu bringen. In den weiter westlich und nördlichen gelegenen Bundesländern fehlen jedoch diese Erfahrungen, werden Händler und Abhängige oft gar nicht erkannt.

Polizei gelingt es nicht, Crystal-Hahn zuzudrehen

Warum es der Polizei allerdings nicht gelingt, den Crystal-Hahn zuzudrehen, obwohl Quellen und Verbreitungswege im Grundsatz bekannt sind, können indes weder Lenk noch von Borries schlüssig erklären. Dass die tschechischen Kollegen bei den Crystal-Köchen und vietnamesischen Zwischenhändlern (aus welchen Gründen auch immer) ein paar Augen zuviel zudrücken, glaubt von Borries nicht. „Tatsächlich hatte man anfangs den Eindruck, dass sich die tschechische Polizei nicht so richtig für Crystal interessiert hat, vielleicht, weil das auf der Konsumentenseite eher ein deutsches Problem war“, sinniert der Staatsanwalt. „Inzwischen ist das aber definitiv anders.“ Autor: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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