Schwedischer Simplicissimus trickst Diktatoren und Eiferer aus
Allan Karlsson verliert seinen Vater an die Oktoberrevolution, wird von schwedischen „Rassen-Hygienikern“ kastriert, sprengt in Spanien für fascho-Franco Brücken, verschafft erst Truman und dann Stalin versehentlich die Atombombe, sprengt den persischen Geheimdienst-Chef in die Luft, um dann Mao und Churchill kennen zu lernen. Schließlich in einem schwedischen Altersheim gelandet, büxt er an seinem 100. Geburtstag aus und stürzt sich in ein letztes großes Abenteuer… Mit dem „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ landete der Schwede Jonas Jonasson 2009 einen derartigen Überraschungserfolg, dass der skurrile Roman inzwischen verfilmt wurde – übermorgen läuft die absurde Komödie in den deutschen Kinos an.
Werbevideo für die Verfilmung (Concorde):
Vergleicht man Jonassons Erstling mit seiner vier Jahre später erschienenen „Analphabetin, die rechnen konnte“, wirkt sein „Hundertjähriger“ zwar hier und dort noch etwas plakativ, da fehlt es noch etwas an der späteren Eleganz der Story-Führung. Nichtsdestotrotz ist auch sein erster Roman ungemein witzig und entführt den Leser auf eine halb fiktionale, halb historische Reise durch 100 Jahre Weltgeschichte. Dabei wählt der Autor die Perspektive eines nur vermeintlichen Simplicissimus, dessen vollkommen unintellektuelle Sicht auf Diktatoren, Präsidenten und politische Eiferer ungemein erfrischend wirkt.
Globale Biografie mit Biss
Indes offenbart sich der Schalk für den Leser erst nach und nach: Jonasson beginnt mit einem zunächst wenig spektakulären Rentnerausbruch in der Gegenwart und lässt den Alten dann Stück für Stück aus dessen bewegter, ja globalen Biografie erzählen, bis sich schließlich beide Zeitebenen treffen. Dabei rechnet Allan Karlsson alias Jonas Jonasson en passant mit linken wie rechten „Heilsbringern“ ab, denen eben vor allem eines allzu oft fehlt: Eine menschliche Perspektive auf jene Menschen, deren Leben sie mit ihrem politischen Tun zu verbessern vorgeben.
Fazit: pure Leselust
Zwar vermisst man – anders als bei der späteren „Analphabetin“ – bei Jonassons „Hundertjährigen“ noch an einigen Stellen erzählerische Stringenz, auch kommt manche politische Aussage noch da und dort etwas zeigefingererhoben daher. Dennoch ist die Lektüre pure Leselust und ein satirischer Blick auf die „Heilsbewegungen“ des 20. Jahrhunderts. Man darf auf die Verfilmung gespannt sein, macht doch schon der Roman vor allem einen Eindruck: großes Kino! Autor: Heiko Weckbrodt
Jonas Jonasson: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, eBuch: neun Euro, ISBN: 978-3-641-05668-1, eine Leseprobe gibt es hierZum Weiterlesen:
Jonassons „Analphabetin, die rechnen konnte“
Allans Reise auf Google Maps:
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