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Flüchtiges Glück

Phillip Toledano: aus der Serie „Days With My Father“, 2006-2009

Phillip Toledano: aus der Serie „Days With My Father“, 2006-2009

Der New Yorker Künstler Phillip Toledano hat unser Streben nach Leben, Schönheit und Erfüllung in Fotos konzentriert – und stellt seine Lichtbilder nun im Hygienemuseum in Dresden aus

Dresden, 23. März 2016. Was tun, wenn der über 90 Jahre alte, demenzkranke Vater immer wieder fragt, wo seine Frau sei – obwohl die vor Jahren gestorben ist? Nach dem 30. Mal erfindet der Sohn eine Geschichte, erzählt, Mutter sei nur kurz einkaufen. Wie die eigene Schwester wiederfinden, die mit neun Jahren in einem Feuer umgekommen ist? Der Bruder sammelt alle Spielzeuge, Stifte, Puppen ein, die er von Claudia noch finden kann, inszeniert sie wie kleine Juwelen und fotografiert sie. Es sind immer wieder die ganz tiefen Verlustängste und Lebensfreuden, denen der New Yorker Fotograf Phillip Toledano (47) in seinen Lichtbildern nachspürt – sensibel und mit einem sicheren Gefühl für Inszenierungen, die dem Fotografierten gerecht werden. Zu sehen ist seine Sonderausstellung „Von der Flüchtigkeit des Glücks“ ab morgen im Deutschen Hygienemuseum Dresden.

Wie schnell uns doch alles wieder entgleitet…

In dieser Werkschau präsentiert der in London geborene Künstler rund 160 Fotografien, die sich in sechs Serien mit ganz elementaren menschlichen Impulsen beschäftigen: Sie spiegeln unsere Gier nach Glück, Leben, Reichtum, Liebe und Schönheit – und zeigen zugleich, wie schnell uns all dies auch wieder entgleitet.

Phillip Toledano. Foto: Heiko Weckbrodt

Phillip Toledano. Das Foto rechts daneben zeigt seinen dementen Vater, wie er im hohen Alter einen Film ansieht, in dem er als junger schauspieler (r.) mitgespielt hat. Foto: Heiko Weckbrodt

Museum schafft Platz für Kontemplation

Jeder Serie ist im Hygiene-Museum je ein eigener Raum gewidmet. Und dieses Konzept schafft Platz für eine großzügige, teils auch großformatige Präsentation dieser ganz besonderen Fotografien. Platz nicht nur im wörtlichen, sondern auch im kontemplativen Sinne: Sicher könne man inmitten der heute allgegenwärtigen Internetflut aus Selfies, Schnappschüssen und anderen Fotos fragen, warum es überhaupt noch einer Fotoausstellung bedürfe, räumte Museums-Direktor Prof. Klaus Vogel ein. Doch es komme eben darauf an, die besonderen Fotografien aus dieser Flut herauszufischen und ihnen in einem Museum den Raum zu geben, den sie verdienen und brauchen, um sich ihnen wirklich anzunähern.

Die 6 Serien:

  • Bankrupt“ entstand als „Lost Places“-Fotoserie in verwaisten Bürohochhäusern der geplatzten Dot-com-Blase und zeigt laut Toledano „die menschlichen Kosten des wirtschaftlichen Kollaps’“.
  • Days with my Father“: Diese sehr persönlichen Lichtbilder entstanden in den letzten Lebensjahren von Phillip Toledanos demenzkranken Vater. In düsteren, oft auch leicht unscharfen Bildern zeigen sie, wie sich Leben und Erinnerung des einstigen Filmschauspielers in einer kleinen Wohnung verengen.
  • Phonesex“ zeigt Telefonsex-Arbeiterinnen ungeschminkt und extrahiert in Kurzinterviews ihre Sicht auf Job, Sex und Leben. Ein Beispiel:

Foto: Phillip Toledano (aus der Serie "Phone Sex"). Repro: hw

Foto: Phillip Toledano (aus der Serie „Phone Sex“). Repro: hw

„Wenn mich die Männer anrufen, bin ich für sie eine leblose Barbie-Puppe… Ich meißele dann ihre Puppe aus Fleisch.“

(Aus einem Kurzinterview mit einer Sextelefonistin)

 

  • A New Kind of Beauty“: Vorteilhaft ausgeleuchtete Porträts von Menschen, die sich durch plastische Chirurgie in ihren Wunsch nach Schönheit haben operativ verändern lassen – bis an den Rand der Monstrosität. Ausstellungskuratorin Dr. Sabine Schnakenberg spricht von einer „skalpellhaften“ Präzision in der Darstellung.
  • Phillip Toledano: „Justin“, aus der Serie „A New Kind Of Beauty“, 2008-2010

    Phillip Toledano: „Justin“, aus der Serie „A New Kind Of Beauty“, 2008-2010

  • When I was Six“: Als Phillip Toledano 6 Jahre jung war, starb seine neunjährige Schwester Claudia in einem Hausbrand. Vier Jahrzehnte später hat der Bruder die Relikte seiner Schwester wie Preziosen einer Schatzkammer fotografiert, um Claudia für sich wiederzufinden.
  • Der Künstler als künstlich Gealterter (l.): Phillip Toledano: „Untitled“, aus der Serie „Maybe“, 2011-2015

    Der Künstler als künstlich Gealterter (l.): Phillip Toledano: „Untitled“, aus der Serie „Maybe“, 2011-2015

  • Maybe“ ist ein Zeitreise-Experiment: Um die unzähligen Varianten seiner Zukunft auszuloten, befragte der Amerikaner seine DNS und Hellseher, nahm Schauspielunterricht, ließ sich schminken und durch Prothesen künstlich altern: Um von seinem 45. ins 65. Lebensjahr zu springen. Um zu erfühlen, wie es ist, ein gescheiterter oder erfolgreicher Künstler im Alter zu sein. Um zum Krüppel oder zum gealterten Lebemann zu werden. In diesem „durchlebten Zukünften“ fotografierte er ausnahmsweise nicht selbst, sondern ließ sich fotografieren. In einem kleinen Kinosaal am Ende der Sonderschau dokumentiert eine knapp halbstündige Reportage diese Metamorphosen.
Video: Auszug aus der Doku
"The Many Sad Fates of Mr. Toledano"
(Seftel Productions):

Fazit: Lebenspulse fotografisch kondensiert

Eine auf den ersten Blick für das Hygienemuseum ungewöhnliche Sonderschau, die aber auf den zweiten Blick umso passender für ein Museum ist, das sich dem Leben in all seinen Facetten verschrieben hat: Viele dieser außergewöhnlichen Fotografien berühren emotional wie intellektuell wichtige Triggerpunkte im menschlichen Konzept vom „gut“ gelebten Leben.

Autor: Heiko Weckbrodt

Besucherinformationen

Was? „Von der Flüchtigkeit des Glücks“, Ausstellung mit Fotografien von Phillip Toledano
Wo? Deutsches Hygienemuseum in Dresden, Lingnerplatz 1
Wann? 24. März bis 25. September 2016, jeweils dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr
Wieviel: 7 Euro, ermäßigt 3 Euro, Kinder bis 16 Jahre und Asylbewerber gratis
Mehr Infos im Internet: dhmd.de

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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