Die Diskussion über die DDR wird gern und oft auf die Stasi reduziert. Worauf sich dieses System jedoch im Alltag stützte, welche kleinen, aber in der Masse lange Zeit doch so erfolgreichen Druckhebel die Staatspartei SED einsetzte, um „ihr Volk“ in Zaum zu halten, und wie sehr das Prinzip Mangel die sozialistische Wirtschaft chronisch durchzog, wird darüber schnell vergessen. Über eben diesen „Wundersamen Alltag im volkseigenen Betrieb“ schreibt Friedbert Hähnel: Der heute 60-Jährige war in den 1970er und 1980er Jahren Schichtleiter und später Materialwirtschaftler und Beschaffer in der Radebeuler Außenstelle des „VEB Verkehrs- und Tiefbaukombinat Dresden“. Dort erlebte er aus erster Hand chronischen Ersatzteilmangel, Hamstermentalität der Betriebe, die Degeneration von der Geld- zur Tauschwirtschaft, aber auch Geschenke-Korruption und Parteibegünstigung.
Dass die DDR ein zutiefst korruptes Staatswesen war, mögen viele vielleicht zunächst verblüfft bestreiten: Aber was im privaten Beschaffungsalltag von Otto Normalbürger usus war – zum Beispiel Ketchup gegen Arzttermin, Blaue Fliesen alias Westgeld gegen Handwerkerleistungen – , war so ähnlich auch im VEB-Alltag üblich, wie Hähnel in Erinnerung ruft: Da wurden Laster von Baustellen abgezogen, um Betriebsleiter X eine Humusfuhre in den privaten Garten zu karren, damit der Hydraulikzylinder aus seinem VEB-Lager herausrückte. Da wurden Schlosser in Restaurants eingeladen, damit die dringend benötigte Teile reparierten, teils aufwendige Ringtausch-Aktionen zwischen Betrieben, ja bis hin zur NVA und ins sozialistische Ausland organisiert, die meist auch mit individuellen „Schmiermitteln“ initiiert wurden…
Arbeiter nahmen „Holt mehr raus aus den VEBs“ wörtlich
Auch auf andere Folgen chronischer Ineffizienz von Staatswirtschaft legt der Autor den Finger: Weil Geld zweirangig war, Ressourcen-Besitz die eigentliche Währung, hamsterten die Betriebe Material und Teile in Größenordnungen und entzogen sie den Wirtschaftskreisläufen. Auch nahmen viele Arbeiter das Motto „Holt mehr raus aus unseren Betrieben“ wörtlich und bedienten sich fleißig an Mangelwaren für den privaten Gebrauch.
Nicht zu vergessen die RGW-Arbeitsteilung, die sich theoretisch gut anhörte, in der Praxis aber nur selten wirklich funktionierte. Sehr amüsant zum Beispiel Hähnels Schilderung einer Rumänienreise der Radebeuler und Dresdner Kollegen: In ihrer Verzweiflung über rumänische Laster, die zu großen Teilen schon kaputt in der DDR eintrafen, organisierten sie einen Konvoi aus Fahrern und Schlossern, die die nächste Lkw-Marge direkt am Werk abholen sollte. Wegen ständiger Ausfälle der Laster geriet die Rückreise indes zur Odyssee.
Fazit:
Sicher: Hähnels Buch ist kein wissenschaftliches und kaum ein analytisches Werk. Aber durch seinen Blick für wichtige Alltagsdetails, an die er sich verblüffend gut erinnert, ist es doch eine gute Quelle für die Disfunktions-Abläufe der volkseigenen Wirtschaft. Dabei ist es noch nicht mal agitatorisch – wie leider vieler solcher Bücher – geschrieben, sondern eher nüchtern bis sarkastisch und dadurch auch unterhaltsam zu lesen. Etwas irritierend fallen freilich manche unfeine Bemerkungen über Kolleginnen und Kollegen auf: Wer Schweißflecken auf der Bluse hatte, mag in einem Roman ein amüsantes Detail sein – es in einem Bericht über reale Menschen zu erwähnen, ist wenig gentlemanlike.
Friedbert Hähnel stellt sein Buch übrigens am Montag, 28. Januar 2013, ab 18 Uhr in einer Lesung im Stadtarchiv Dresden, Elisabeth-Boer-Str. 1, vor. Der Eintritt ist kostenlos. Heiko Weckbrodt
Friedbert Hähnel: „Der wundersame Alltag im volkseigenen Betrieb“, Verlag am Park/Edition Ost, Berlin 2011, 148 Seiten, ISBN 978-3-89793-268-5, 15 EuroIhre Unterstützung für Oiger.de!
Ohne hinreichende Finanzierung ist unabhängiger Journalismus nach professionellen Maßstäben nicht dauerhaft möglich. Bitte unterstützen Sie daher unsere Arbeit! Wenn Sie helfen wollen, Oiger.de aufrecht zu erhalten, senden Sie Ihren Beitrag mit dem Betreff „freiwilliges Honorar“ via Paypal an:
Vielen Dank!