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Wie der „ePuzzler“ die Stasi-Akten rekonstruiert

Umgerüstete Matrix-Scanner lesen die Akten-Schnipsel so ein, dass auch die Rückseite später rekonstruierbar ist. Abb.: BStU

Umgerüstete Matrix-Scanner lesen die Akten-Schnipsel so ein, dass auch die Rückseite später rekonstruierbar ist. Abb.: BStU

Berlin, 15.12.2011: Als die Stasi im Herbst 1989 begann, Akten in großen Stil zu vernichten, stießen die wenigen verfügbaren Schreddermaschinen schnell an ihre Grenzen. Daraufhin zerrissen die Schlapphüte ihre Unterlagen von Hand – manchmal nur in je vier Teile, oft aber auch sorgfältiger. Insgesamt entstanden so rund 600 Millionen Schnipsel, die nun zusammengesetzt werden sollen.

Das Team um Dr. Bertram Nickolay vom Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) hat dafür die „Automatisierte virtuelle Rekonstruktion“ entwickelt. Kernstücke dieser Technologie sind speziell angepasste Hochleistungs-Scanner und die Software „ePuzzler“, die auf einem Supercomputer aufgespielt ist.

Anders als handelsübliche Digitalisiergeräte verwenden die hochauflösenden Scanner der Fraunhofer-Forscher Hintergründe ähnlich den „Blue Screens“, die in Filmstudios für Spezialeffekte eingesetzt wird. Dadurch können die einzelnen Schnipsel pixelgenau freigestellt werden, um ihre Konturen klar zu erkennen – wie die Teile eines Puzzles eben. Im Vollbetrieb soll der Matrix-Scanner, der einen ganzen Schnipseltisch auf einen Schlag erfassen kann, mehrere Tausend Schnipsel pro Stunde elektronisieren.

Bis auch die letzte Stasi-Akte zusammengesetzt ist, wird es trotz Computerhilfe einige Jahre dauern. Abb.: IPK

Der ePuzzler in Aktion - bis auch die letzte Stasi-Akte zusammengesetzt ist, wird es aber trotz Computerhilfe einige Jahre dauern. Abb.: IPK

Das eigens geschriebene Programm „ePuzzler“ begutachtet die so entstanden virtuellen Puzzleteile dann nach Kriterien wie Kontur, Schriftart, Linierung und dergleichen mehr und fasst sie zu ähnlichen Gruppen zusammen. Danach beginnt die eigentliche Rekonstruktion, das „Matchen“. Dabei dreht und wendet der Computer in seinem Speicher so lange, bis er eine Seite zusammengepuzzelt hat. Kommt er zu keinem klaren Ergebnis, legt er die Fragmente einem menschlichen Bearbeiter vor.

Der „menschliche Faktor“ ist auch beim abschließenden Schritt, der Erschließung, gefragt: Dann werden die einzelnen Blätter wieder zu vollständigen Akten zusammengeführt. Indem der Computer Texte, die mit gleicher Handschrift oder gleicher Schreibmaschine geschrieben wurden, vorordnet, wird er den Archivaren in Zukunft bereits Vorschläge machen können – doch ohne Fachleute kommt auch die beste Software nicht aus. Abzuwarten bleibt auch, ob die Gerichte die so rekonstruierten Akten anerkennen, wenn die dann wieder lesbaren Unterlagen zu Enttarnungen und Prozessen führen sollten.

Nach Einschätzung von Dr. Nickolay ist diese Technologie „weltweit einzigartig.“ Geforscht und gearbeitet wird freilich weltweit an Technologien, um zerschredderte Akten und andere Papiere wieder lesbar zu machen. Erst kürzlich hatte beispielsweise die Forschungsagentur „DARPA“ des US-Verteidigungsministeriums einen landesweiten Wettbewerb ausgelobt, der zum Ziel hatte, fünf (gestellte) zerschredderte Geheimdienst-Dokumente in möglichst kurzer Zeit zu rekonstruieren und zu dechiffrieren. Gewonnen hat diesen Kontest ein kleines Team aus San Francisco, das binnen 33 Tagen die Aufgaben löste und dafür Computertechnik und menschliche „Detektivarbeit“ kombinierte. Allerdings waren in dem Wettbewerb auch „nur“ 10 000 Schnipsel zusammen zu setzen und nicht 600 Millionen, wie bei den Stasi-Unterlagen.

Die Nachfrage für solche Techniken ist au jeden Fall groß – nicht allein bei den Geheimdiensten. „Unsere Rekonstruktionstechnologie soll nicht nur für die Stasi-Akten eingesetzt werden“, betonte Dr. Nickolay. „Auch die Finanzverwaltungen, die Polizei und sogar Ägyptologen haben Interesse angemeldet.“ Heiko Weckbrodt

Siehe auch: Interview mit Roland Jahn, Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, über das Rekonstruktionsprojekt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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