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Bekenntnisse eines Atari-Nerds

Woher rekrutieren Retro-Videospielmuseen ihre Fans?

Warum ist das Interesse an Retro-Heimcomputer-Shows, Computerspielmuseen oder Nerd*-Krimis wie „Extraleben“ so anhaltend hoch? Ist doch klar: Bis Ende der 70er hatten nur wenige Wissenschaftler und Studis Zugang zu Computern und das waren meist klobige Mainframes, über die die Fakultätsleitung wachte wie ein Luchs. Wer in den 80er Jahren aufwuchs, gehört hingegen zur ersten Digitalgeneration, die mit diesem wunderbaren scheinklugen Spielzeug namens Computer groß wurde, das war die Zeit von C 64, HC 900 & Co.

Mein Schatz: der Atari 800 XL. Abb. (2): Multicherry/Wikipedia

Wer auch nur ein wenig technikaffin ist, wird wohl nie den Augenblick vergessen, als er seinen ersten eigenen Computer ausgepackt und eingeschaltet hat. Bei mir war es ein Atari 800 XL, für den ich Zonenkind in den 80ern meine Oma unter Druck setzte, damit sie mir ihr letztes Westgeld rausrückte. Denn den Plan, einen Robotron-Heimcomputer im Centrum-Warenhaus gegen Ost-Mark zu erwerben, musste ich mir beizeiten abschminken: Diesen Z 9001 sah der Einzelhandel wohl nur für wenige Mikrosekunden. Blieb nur der „Intershop“, in dem der Atari 250 Mark kostete – D-Mark wohlgemerkt. Ich plünderte also Oma aus und als das nicht reichte, drückte ich ihr meine Ostgeld-Ersparnisse in die Hand, auf dass sie diese illegal im Verhältnis 1 zu 5 „drüben“ umtauschte.

Ohne Westknete keine Datasette

Leider für mich damals unerschwinglich: die Datasette

Leider für mich damals unerschwinglich: die Datasette

Und schließlich stand er auf meinem Schreibtisch. Der Atari 800 XL mit 1,8-MHz-MOS-Prozessor und 64 Kilobyte RAM-Speicher. Die folgenden Monate blieb für Penne und Hausaufgaben plötzlich verdammt wenig Zeit. Das hing auch damit zusammen, dass ich „BASIC“ zwar recht rasch gecheckt hatte, aber keinerlei Chance, die selbstgeschriebenen Klotzgrafik-Videospiele abzuspeichern. Denn die letzten Westgeld-Reserven in der Familie waren erschöpft, eine Datasette** für die Programmspeicherung somit außer Reichweite. Also musste nach jeder durchprogrammierten Nacht der gesamte Programmcode auf Zetteln aufgeschrieben werden – das hat mir fast eine Freundschaft gekostet und nach Zeile 5800 hab ich’s bleiben lassen.

Verkrampfte Kuli-Hände und der Zusammenschweißeffekt

Und damit nicht genug: Nur mit viel Mühen und Beziehungen bekam ich schließlich ein bereits x-mal thermokopiertes Atari-Handbuch in die Finger, in dem wirklich jede einzelne Speicherzelle, jeder Assembler-Token-Code, jede Sprungroutine beschrieben war. Die Kopie war aber nur geborgt und das hat dann wiederum den Familienfrieden arg belastet, denn ich habe solange mit dem Füßen auf dem Boden herumgetrampelt, bis Mutter, Vater, Brüder – wirklich alle – zum Kuli griffen und das Handbuch Seite für Seite abgeschrieben hatten.

Ich will hier „Die Leiden eines jungen Atari-Nerds“ gar nicht weiter auswalzen, denn eines ist wohl klar geworden: So etwas schweißt zusammen. Vielleicht nicht mich und den Rest der Menschheit. Aber mich und meinen Atari. Den habe ich übrigens immer noch im Keller stehen – ich bring es einfach nicht übers Herz, ihn wegzuschmeißen, obwohl mein PC, auf dem ich diese Zeilen schreibe, etwa eine Million besser und schneller ist als der olle 800 XL. Vielleicht mach ich ja auch mal ein Heimcomputer-Retro-Museum auf und dann brauch ich ihn… Heiko Weckbrodt

Erklärungen für die Facebook-Generation:
 
* „Nerd„, der (grundsätzlich männlich): Meist bebrillter Bekloppter, der nächtelang auf dem Computer herumhackt, statt sich eine Freundin zu suchen. Meist tagscheu und sehr reizbar. Vorsicht: Abwertende Äußerungen über den Computer des Nerds können zu unmittelbarer Lebensgefahr führen!
 
** „Datasette„, die (weiblich): Gerät, um mangels Festplatte, Floppy, CD oder DVD Heimcomputerprogramme irgendwie speichern zu können. Gewöhnlich viel zu teuer.
 

Siehe auch: Mega-Retro-Show auf der Gamescom

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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