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„Robotron war größer als Apple, Commodore und Atari zusammen“

Titelbild: Eulenspiegel/ Rene Meyer: "Von Robotron bis Poly-Play"

Titelbild: Eulenspiegel/ Rene Meyer: „Von Robotron bis Poly-Play“

„Von Robotron bis Poly-Play“: René Meyer legt eine Computerkultur-Geschichte der DDR vor

Über Jahre hinweg hat der Leipziger Journalist René Meyer zur Geschichte der Computertechnologien in der DDR recherchiert. Nun publiziert er die daraus gewonnenen Befunde unter dem Titel „Von Robotron bis Poly-Play“ als reich illustriertes Sachbuch. Meyer beschreibt darin Technik und Hintergründe von Rechnern und Software aus dem DDR-Computerkombinat Robotron, aber auch anderen Staatsbetrieben, die teils ebenfalls solche Technik gebaut haben. Zudem wirft er einen Blick über die „ernsthaften“ und staatstragenden Anwendungen dieser Technologien hinaus auf Videospiele, Heimcomputer-Clubs und Science Fiction in der DDR.

„Ein Land, das sich auf allen denkbaren Kanälen dem Chip-Zeitalter zuwendet“

„Wenn über Computer in der DDR geredet wird, dann meistens spöttisch“, schreibt der Autor in seinem Vorwort mit dem beredten Titel „Chip! Chip! Hurra!“. Doch dies werde der Kraftanstrengung eines vergleichsweise kleinen Industrielandes, in der internationalen Hochtechnologie-Liga mitzuspielen, nicht gerecht. „Robotron ist Ende der achtziger Jahre größer als Apple, Commodore und Atari zusammen“, betont Meyer. „Als eines von sehr wenigen Ländern auf der Welt entwickelt die DDR fast jedes Einzelteil selbst, vom Prozessor bis zum Gehäuse. Der Aufbau einer Halbleiterindustrie ist für das kleine Land wirtschaftlich irrsinnig; und doch gibt es keine Alternative… Letztendlich entstehen aus eigener Kraft nützliche Produkte, deren Selbstkosten aber ein Mehrfaches des Weltmarktpreises betragen. Geschaffen von Menschen mit pfiffigen Ideen, in einem Land, das sich auf allen denkbaren Kanälen dem Chip-Zeitalter zuwendet.“

Rene Meyer. Foto: Die Schreibfabrik

Rene Meyer. Foto: Die Schreibfabrik

Beispiele dafür führt der Journalist viele an – untermauert durch zahlreiche Zeitzeugen-Berichte, DDR-Literatur, einschlägige Netzportale, zeitgenössische Zeitschriften und Werbeprospekte, aber auch eigene Erlebnisse als – seinerzeit eben auch vom Computerfieber infizierter – ostdeutscher Schüler. Besonders ausführlich zeichnet er die Entwicklung von elektronischen Bauteilen, Schaltkreisen und Rechnern bei Zeiss, an der TU Dresden, im Halbleiterwerk Frankfurt Oder und vor allem schließlich bei Robotron nach.

Lochbandleser der Cellatron 8205 Z. Foto: Heiko Weckbrodt

Lochbandleser der Cellatron 8205 Z. Foto: Heiko Weckbrodt

Trotz Konzentration in Kombinaten: Bei Computer- und Software-Entwicklung mischten viele mit

So schildert er beispielsweise, wie Carl Zeiss Jena den elektromechanischen Rechner „Oprema“ 1954/55 entwickelte und die ZRA1. Wie der PC-ähnliche Tischcomputer D4A des Dresdner Professors Nikolaus Lehmann entstand und 1969 die Cellatron 8205 im VEB Büromaschinenwerke Zella-Mehlis in Serie ging. Warum sich der VEB Elektronische Rechenmaschinen (Elrema) in Karl-Marx-Stadt und Rafena Radeberg immer mehr als Serienproduzenten des Robotron 300 und weiterer DDR-Computer spezialisierten. Und wie die Zusammenarbeit zahlreicher Staatsbetriebe aus Sachsen und Thüringen beim Bau des „Robotron 300“ den Grundstein legen, damit sich am 1. April 1969 das Kombinat „Robotron“ (Kofferwort aus „Roboter“ und „Elektronik“) gründen konnte. Als Hauptquartier für dieses Großkombinat wählten die ostdeutschen Wirtschaftslenker Dresden. Von dort aus koordinierte die Kombinatsleitung rund zwei Dutzend Betriebe, die die ganze informationstechnologische (IT) Bandbreite für die DDR abzudecken hatten: vom Großrechner für den Ostblock über Plotter und Laufwerke bis hin zum DDR-Standard-PC 1715 und Heimcomputern wie dem Z 9001 – inklusive Software.

Da kam es auf jede Speicherzelle an, die sich mit dem "Poke"-Befehl direkt beschreiben ließ: Der Heimcomputer "Z 9001" von Robotron musste in Kleincomputer KC85/1 umbenannt werden, da das Gerät recht rasch wieder aus dem Handel verschwand und nur noch an "gesellschaftliche Bedarfsträger" verkauft wurde. Foto (bearbeitet): Heiko Weckbrodt

Der Heimcomputer „Z 9001“ von Robotron musste in Kleincomputer KC85/1 umbenannt werden, da das Gerät recht rasch wieder aus dem Handel verschwand und nur noch an „gesellschaftliche Bedarfsträger“ verkauft wurde. Foto (bearbeitet): Heiko Weckbrodt

Vom Piko-Spielzeugcomputer bis zum Heimcomputer aus Mühlhausen

Meyer spricht dabei auch konkret an, was eher leicht verbesserte Klone westlicher Hardware und Programme waren, was dagegen eher ostdeutsche Eigenentwicklungen. Und dass eben – und nach der Kombinatsgründung – nicht jegliche IT-Entwicklung bei Robotron konzentriert war. Das lag teilweise auch an der Plan-Vorgabe aus Berlin, dass alle Kombinate fünf, später zehn Prozent ihrer Warenproduktion als Konsumgüter abrechnen mussten. Dazu gehörten Arabesken wie der drahtprogrammierte Spielzeugrechner „Piko Dat“, aber auch ernsthafte Konkurrenz wie der Heimcomputer HC 900, den ein Jugendforscherkollektiv im VEB Mikroelektronik Mühlhausen entwickelte – parallel zum anders gestrickten Robotron-Pendant Z 9001.

DDR-Spielzeugcomputer von Piko. Foto (freigestellt): Heiko Weckbrodt

DDR-Spielzeugcomputer von Piko. Foto (freigestellt): Heiko Weckbrodt

Bunte Software-Szene wuchs in der DDR – vor allem ab der Heimcomputer-Zeit

Noch diverser und teils auch von Wettbewerb geprägt war die ostdeutsche Softwareszene vor der Wende: Weil weder Robotron noch das Kombinat Datenverarbeitung genug Kapazitäten dafür hatten, schrieben viele Betriebe eigene Programme, um ihre teils bunt zusammengewürfelte Rechentechnik an die eigenen Fertigungsprozesse und Abläufe anzupassen. Und für Spiele-Entwicklung war schon meist gar kein Personal da. Deshalb spannten Heim- und Kleincomputer-Hersteller wie Robotron Dresden und Mikroelektronik Mühlhausen auf Honorarbasis systematisch Schüler, Studenten und andere Hobby-Programmierer ein. Dieser Spieleentwickler-Pool wiederum speiste sich unter anderem aus der Heimcomputer-Gemeinde der DDR, die besonders in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre stark expandierte. Hier bildete sich „ein ganz eigenes Biotop“.

Statt Angst wie im Westen verbreiteten Computer in der DDR Euphorie und Begeisterung

Überhaupt sei bemerkenswert, wie positiv und fördernd viele Entscheider in der DDR die jugendliche Beschäftigung mit Computern und Videospiel-Programmiererei sahen, diagnostiziert René Meyer: „Statt Angst und Schrecken verbreiteten die Computer eher eine Euphorie und Begeisterung in der DDR“, verweist er auf eine Untersuchung von Kery Ahmad. Das Programmieren von Computerspielen galt in der DDR als „sinnvolle Freizeitbeschäftigung“, anders als vielerorts im Westen Deutschlands, wo sich Gewerkschafter, Pädagogen und besorgte Mütter eher auf mögliche Risiken von Computertechnik fokussierten. „Im Unterschied zum zeitgenössischen westdeutschen Diskurs war der ostdeutsche über Computerspiele für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene offenbar frei von Berührungsängsten“, zitiert er einen Aufsatz der Historikerin Angela Schwarz.

Viele Zeitzeugen-Berichte eingebettet

Unterm Strich ist „Von Robotron bis Poly-Play“ ein faszinierender Abriss über Computertechnologie und ihre gesellschaftlichen Wirkungen in der DDR aus mehreren verschiedenen Perspektiven. Der Titel ist insofern leicht irreführend, da auch die staatlich befohlene Entwicklung des Polyplay-Spielautomaten im Buch ein Rolle spielt, ebenso auch generell Computerspiele aus und in der DDR beleuchtet werden. Mit einer Daddel-Schau hat das Sachbuch aber wenig zu tun, auch wenn es eher frisch und lebendig geschrieben ist: Allein schon die vielen eingebetteten Berichte von Mikroelektronik- und Computerentwicklern, ostdeutschen Software-Experten, Heimcomputer-Nutzern, Hobby-Programmierern, Ausbildern und anderen Zeitzeugen sind ein Wert an sich für Historiker. Auch fasst Meyer die Fähigkeiten und Grenzen zahlreicher ostdeutscher Hardware-Produkte prägnant zusammen, schildert Zusammenhänge, Eingriffe „von oben“ wie auch Entwicklungsstränge, die eher an der Basis gesponnen wurden.

Ein DDR-Werbeheft für die Cellatron 8205 Z mit dem Pumpspeicherwerk Pumpspeicherwerk Hohenwarte in Thüringenim Hintergrund. Foto: Heiko Weckbrodt

Ein DDR-Werbeheft für die Cellatron 8205 Z mit dem Pumpspeicherwerk Pumpspeicherwerk Hohenwarte in Thüringen im Hintergrund. Repro: Heiko Weckbrodt

Chipchip-Hurra bis hin zur Ampelsteuerung und Defa-Filmen

Zudem beschränkt sich das Buch nicht allein auf Computer und Software, sondern greift auch weit aus in alle Wirtschafts- und Lebenssphären, in die Mikroelektronik und Informationstechnologien seinerzeit hineingewirkt haben: CNC-Maschinen ebenso wie Ampelsteuerungen, Schachsport und Spieleszene, utopische Bücher und Science-Fiction-Filme aus den Defa-Studios – wobei man sich bei letzteren Ausblicken fragen kann, ob sie nicht eher in eine Kulturgeschichte de DDR hineingehören. Auch bringt das Buch einigen Schauwert mit: Meyer druckt unter anderem zeitgenössische DDR-Computer-Werbung (in der übrigens Frauen auf die eine oder andere Weise immer eine prominente Rolle gespielt haben), auch Bildschirm-Fotos von Videospielen der Marke „selbstprogrammiert“ sowie historische Fotos, Urkunden, Produktabbildungen und vieles mehr. Allerdings verzichtet Meyer ganz auf einen Anmerkungs-Apparat mit genauen Quellenangaben. Das schmälert den wissenschaftlichen Wert des ansonsten sehr fundierten Buches leider etwas.

Im Science-Fiction-Roman "Kommando Venus 9" aus dem Militärverlag der DDR beschrieb Karl-Heinz Tuschel 1980 das Szenario einer menschenleeren, nur von Robotern geführten Fabrik, die für die Menschen wie eine Schwarzes Loch ist - und plötzlich eigene Ziele verfolgt. Repro: Heiko Weckbrodt

Im Science-Fiction-Roman „Kommando Venus 9“ aus dem Militärverlag der DDR beschrieb Karl-Heinz Tuschel 1980 das Szenario einer menschenleeren, nur von Robotern geführten Fabrik, die für die Menschen wie eine Schwarzes Loch ist – und plötzlich eigene Ziele verfolgt. Repro: Heiko Weckbrodt

Fazit: Faszinierender Blick auf die ostdeutsche Technikkulturgeschichte

Dennoch: Wer sich für Heimcomputer, DDR-Technikgeschichte, Wirtschaft und Science Fiction interessiert, dem kredenzt der Autor ein faszinierendes und flüssig lesbares Kapitel ostdeutscher High-Tech- und Kulturhistorie mit all ihren Eigenheiten im Vergleich zur damaligen BRD.

Kurzüberblick

  • Titel: „Von Robotron bis Poly-Play – Computer und Videospiele in der DDR“
  • Autor: René Meyer
  • Genre: Technik- und kulturgeschichtliches Sachbuch
  • Erscheinungsdatum: 13. August 2024
  • Verlag: Eulenspiegel/Das Neue Berlin
  • Umfang: 288 Seiten
  • Preis: 20 Euro
  • ISBN 978-3-360-02761-0
  • Eine Leseprobe gibt es hier
  • Mehr Infos gibt es hier im Netz

Autor der Rezension: Heiko Weckbrodt

Quellen: René Meyer: „Von Robotron bis Poly-Play“, Oiger-Archiv, Heiko Weckbrodt: Innovationspolitik in der DDR, Wikipedia, KC85emu, Eulenspiegel-Verlag, kommunismusgeschichte.de

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt