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Bei Exa-Computern hinkt Europa den USA und China hinterher

Das Archivfoto zeigt Dr. Michael Bussmann noch vor der Casus-Gründung im Rechnerkomplex des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf. Die Ressourcen der "Mutter" nutzt das Casus bis heute für viele Simulationen und Tests. Foto: Heiko Weckbrodt

Das Archivfoto zeigt Dr. Michael Bussmann noch vor der Casus-Gründung im Rechnerkomplex des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf. Die Ressourcen der „Mutter“ nutzt das Casus bis heute für viele Simulationen und Tests. Foto: Heiko Weckbrodt

Klima, Krebs und Kernfusion im Datenfokus: Casus-Experten aus Görlitz schreiben an Software für die neue Superrechner-Königsklasse

Görlitz/Dresden, 8. Juni 2023. In der Supercomputer-Königsklasse, dem Exascale-Computing, hinken die Europäer den US-Amerikanern und Chinesen etwa zwei bis drei Jahre hinterher. Gemeint sind damit extrem leistungsfähige Rechner und deren Programme, die eine Trillion Fließkomma-Rechenoperation – also über ein „Exaflop“ – pro Sekunde ausführen können. Das hat der Physiker Dr. Michael Bussmann eingeschätzt. Und er kann sich wohl ein profundes Urteil darüber bilden: Er leitet das Zentrum für datenintensive Systemforschung „Casus“ in Görlitz und hat es mit seinen Kollegen zu einem der in Europa führenden Kompetenzknoten fürs Exascale-Rechnen profiliert.

Auch das Klima und andere komplexe Phänomene unseres Heimatplaneten sind ein Forschungsschwerpunkt im Casus. Dafür setzen die Wissenschaftler vor allem Computersimulationen und mathematische Modelle ein. Grafik: Casus

Das Klima und andere komplexe Phänomene unseres Heimatplaneten gehören zu den Forschungsschwerpunkten im Casus. Dafür setzen die Wissenschaftler vor allem Computersimulationen und mathematische Modelle ein. Grafik: Casus

Wer heute die besten Supercomputer hat, produziert morgen die besten Autos und Wirkstoffe

Dem Laien mag der Exaflop-Wettlauf vielleicht zunächst wie ein bloßes Muskelmessen zwischen Akademikern erscheinen. Die Nationen, die hier führen oder zurückfallen, merken dies indes eher oder später ganz handfest wissenschaftlich wie wirtschaftlich – in einigen Sektoren vielleicht erst in 30 Jahren, in anderen aber schon nach ein oder zwei Jahren. Denn ein Großteil der Spitzenforschungsergebnisse in Physik, Mathematik, Chemie und vielen anderen Disziplinen kommen heute nicht durch Tüfteleien von Einzelgenies zustande, sondern durch kollektive Arbeit an Großforschungsanlagen und den massiven Einsatz von Datenanalysen, Simulationen und entsprechender Computertechnik.

Auf dem geplanten Supercomputer Frontier der Exascale-Klasse in den USA können bisher ungelöste Fragen der Plasmaphysik beantwortet werden. Als Erstes möchten die Forscher vom HZDR neuartige lasergetriebene Elektronen- und Ionenbeschleuniger modellieren. Foto: ORNL/U.S. Dept. of Energy

Der US-Supercomputer „Frontier“ stößt in die Exascale-Klasse vor. Foto: ORNL/U.S. Dept. of Energy

Und das betrifft eben nicht nur die Grundlagenforschung, deren Resultate oft erst nach Dekaden die Wirtschaft und die Gesellschaft völlig umkrempeln, sondern auch Finanzwirtschaft, Energietechnik, Reaktorbau, Werkstoff-Design, Künstliche Intelligenz (KI) und viele andere Technologien im Jetzt und Heute. Anders ausgedrückt: Wer heute an den weltweit schnellsten Supercomputer rechnet, hat auch gute Chancen, morgen die besten medizinischen Wirkstoffe, Kraftwerke und Autos parat zu haben.

Prof. Roland Sauerbrey, wissenschaftlicher Direktor des HZDR. Foto: André Wirsig für das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf

Bewies Weitblick: Ab 2019 baute HZDR-Wissenschaftsdirektor Prof. Roland Sauerbrey gemeinsam mit Dr. Michael Bussmann das Casus in Görlitz auf. Die Idee dahinter: Datengetriebene, supercomputer-gestützte Forschung wird in naher Zukunft eine noch größere Rolle spielen als schon heute. Foto: André Wirsig für das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf

Datengetriebener Blick auf komplexe Phänomene

Eben deshalb hatte der damalige Wissenschaftsdirektor des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR), Prof. Roland Sauerbrey, im Jahr 2019 in Görlitz ein neues Forschungszentrum gegründet. Das sollte sich – basierend der Analyse großer Datenmengen und Simulationen – mit besonders komplexen Phänomenen wie Sternenkernen, Pandemien, Klima, Krebs und Kernfusion beschäftigen. Dafür wählte Sauerbrey damals mit Bedacht ein interdisziplinäres Team aus. Und eben Experten wie Bussmann, die sich in der internationalen Supercomputing-Szene bereits einen guten Ruf gemacht, sich weltweit vernetzt – und schon Zugriff auf die schnellsten Rechner der Amerikaner bekommen hatten.

Von Anfang an mit Breslau verzahnt: Das Forschungszentrum Casus am Untermarkt in Görlitz. Foto: Heiko Weckbrodt

Das Forschungszentrum Casus am Untermarkt in Görlitz. Foto: Heiko Weckbrodt

International und interdisziplinär – und alle mit dem Programmier-Gen

Seitdem hat Bussmann ein internationales und interdisziplinäres Team von 70 Spezialisten aus 20 Ländern aufgebaut, die diese Expertise und Netzwerke vom historischen Untermarkt in Görlitz aus weiterspinnen – in enger Kooperation übrigens mit den Nachbarn in Breslau und Prag. In den Arbeitsgruppen im Casus forschen Wissenschaftler ganz verschiedener Fachrichtungen von Physik über Mathematik und Biologie bis hin zu Chemie und Astronomen. Was sie fast alle – in unterschiedlichem Maße natürlich – gemeinsam haben: Sie gehören zu einer Generation von Wissenschaftlern, die eigene hochspezialisierte Computerprogramme für ihre Forschungen schreiben können. Sie entwickeln beispielsweise Simulationen für Medizin, Astronomie und Seuchenausbreitung, aber auch Optimierungs-Kodes, um aus der verfügbaren Computertechnik das letzte Quäntchen Leistung für besonders komplexe Datenanalysen herauszukitzeln. Die lassen sie dann auf den weltweit schnellsten Supercomputern wie dem „Frontier“ in den USA laufen, sobald sie dort wieder eine Zeitscheibe zugeteilt bekommen. Alternativ dazu optimieren sie ihre Programmzeilen solange, bis manch komplexe Analyse am Ende eben doch auf einem Notebook läuft.

Raubtieren wie dieser Tiger haben im Laufe der Evolution bestimmte Gene verloren, die unter anderem für den Abbau von Pflanzengiften zuständig waren. Foto: TheOther Kev, pexels.com, Lizenz: kostenlose Nutzung https://www.pexels.com/de-de/foto/grauer-und-schwarzer-tiger-der-auf-wald-geht-2264556/

Bestimmte Turing-Muster finden sich immer wieder in der Natur – zum Beispiel in den Streifen im Tigerfell. Foto: TheOther Kev, pexels.com, Lizenz: kostenlose Nutzung

Woher der Tiger seine Streifen hat und wie Wasserstoff zum Stromkabel wird

Zu den Schwerpunkten, die sie derzeit damit bearbeiten, gehören beispielsweise Simulationen, wie sich das Millionen Grad heiße Teilchenplasma in den Fusionsreaktoren der Zukunft verhält. Näher am praktischen Einsatz sind Projekte wie „Pionieer“, „Optima“ und „Solace“, die auf eine neue Qualität der Krebsdiagnostik und -behandlung zielen. Die Casus-Simulationen geben Astrophysikern aber auch einen Ahnung davon, was sich im Innern von Zwergsternen und Riesenplaneten abspielt, wie sich Wasserstoff plötzlich wie ein Stromkabel verhält und wie sich extrem starke Magneten konstruieren lassen. Auch spüren sie alten Rätseln der Natur nach: beispielsweise, warum und wie genau sich beispielsweise bestimmte Muster immer wieder in der Fauna und Flora bilden, seien es nun die Streifen im Tigerfell, die Muster von Seesternen oder die Aststrukturen von Bäumen.

An Europas Supercomputer-Programm „EuroHPC“ beteiligt

Einen eigenen Supercomputer der Petaflop- oder gar Exaflop-Klasse haben die Casus-Experten allerdings nicht – da liegt ganz Europa eben noch ein ganzes Stück hinter den USA, China und Japan hinterher. Seit 2018 versuchen auch die Europäer in ihrem gemeinsame Unternehmen „EuroHPC JU“ in Luxemburg, einen Exascale-Computer zu bauen und dafür geeignete Programme und Technologien zu entwickeln. Der erste europäische Exascale-Computer  entsteht derzeit unter dem Codenamen „Jupiter“ im Forschungszentrum Jülich und soll 2024 betriebsbereit sein. Aber an den benötigten Exascale-Programmen für diese neue Königsklasse schreibt Casus schon mal.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Vor-Ort-Besuch Casus, Auskünfte Bussmann, HZDR, Oiger-Archiv, EuroHPC, FZ Jülich

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt