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Fingergeste statt Zettelwirtschaft

Azubi Marcus Rese bearbeitet an einer Entgratungsmaschine in der "Mechanischen Fertigung Radeberg" ein Blech. Seit dem Jahreswechsel 20222/23 sind hier überall Touch-Displays installiert, auf denen die Arbeiter den Auftragsbestand und Arbeitsfortschritt sehen und dokumentieren. Foto: Heiko Weckbrodt

Azubi Marcus Rese bearbeitet an einer Entgratungsmaschine in der „Mechanischen Fertigung Radeberg“ ein Blech. Seit dem Jahreswechsel 20222/23 sind hier überall Touch-Displays installiert, auf denen die Arbeiter den Auftragsbestand und Arbeitsfortschritt sehen und dokumentieren. Foto: Heiko Weckbrodt

Wie in der „Mechanischen Fertigung Radeberg“ digitalisieren nun deutschlandweit auch immer mehr Kleinfabriken ihre Produktion

Radeberg, 2. Mai 2023. Zapp-zapp – mit wenigen Fingergesten auf dem Bildschirm hat der Maschinenbediener die Fabrikcomputer darüber informiert, das er das Gehäuse-Rückblech nun zurechtgelasert hat und der Kollege von der Lackiererei das Los übernehmen kann. Das Blech mit seinen Laser-Punkten liegt nun als Icon auf einem visualisiertem Kistenstapel auf dem Display mit den erledigten Aufträgen. Denn wo früher in der Werkhalle der „Mechanischen Fertigung Radeberg“ (MFR) eine Zettelwirtschaft dominierte, hängen seit kurzem große Touchscreens. Auf denen sehen die Männer und Frauen an den Maschinen, wann in dieser Woche sie welches Blechgehäuse erledigt haben müssen, können dazu technische Zeichnungen aufrufen, den Bearbeitungsstatus per Fingergeste auf dem Bildschirm weiterstellen oder ein paar Notizen für den nächsten Kollegen hinterlassen. Die Vorteile eben, die eine konsequente Digitalisierung mit sich bringt.

Produktion wird plötzlich transparent

„Ich wollte endlich eine transparente Produktion“, erklärt MFR-Chefin Kerstin Tiegel, warum sie gemeinsam mit der europäischen Agentur „EIT Manufacturing“ und dem Berliner Unternehmen „5thIndustry” die Arbeitsabläufe in ihrem Unternehmen in einer Hauruck-Aktion über den Jahreswechsel 2022 zu 2023 auf “digital” umgestrickt hat. “Früher haben wir manchmal eine halbe Ewigkeit gesucht, auf welcher Station ein bestimmtes Kleinteil gerade gelandet war. Damit ist nun Schluss: Jetzt wissen wir immer ganz genau, wo welches Bauteil steckt und wie weit es bearbeitet ist.” Außerdem sei dieses ganze Nebeneinander von Excel-Tabellen, Datenbank-Auszügen und Papieraufträgen immer ineffizienter für einen modernen Metallbaubetrieb wie die MFR gewesen.

Geschäftsführerin Kerstin Tiegel von der Mechanische Fertigung Radeberg und "5thIndustry"-Chef Jan-Marc Lischka diskutieren die nächsten Digitalisierungs-Schritte. Foto: Heiko Weckbrodt

Geschäftsführerin Kerstin Tiegel von der Mechanische Fertigung Radeberg und „5thIndustry“-Chef Jan-Marc Lischka diskutieren die nächsten Digitalisierungs-Schritte. Foto: Heiko Weckbrodt

Neue Freiräume für die Belegschaft

„Seit wir unsere Abläufe digitalisiert haben, arbeiten wir spürbar effizienter, können Kundenwünschen flexibler entgegenkommen, unsere Arbeitszeit besser planen und die Rüstzeiten der Maschinen optimieren“, sagt Tiegel. Und ihre Belegschaft ziehe da voll mit: Die Männer und Frauen an den Maschinen wissen die neuen Freiräume, die das neue digitale Produktionsmanagement mit sich bringt, sehr zu schätzen.

„Das Wichtigste ist, die Menschen mitzunehmen”

Das sieht auch „5th Industry”-Chef Jan-Marc Lischka so, der das Digitalisierungsprojekt in dem, Gewerbegebiet nördlich von Dresden betreut hat: „Die Mechanische Fertigung Radeberg ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie gut Digitalisierung für den Mittelstand funktionieren kann, wenn man einen Grundsatz beherzigt: Das Wichtigste ist, dabei die Menschen mitzunehmen.” Denn oft genug stemmen sich „altgediente” Facharbeiter und Wissensträger in Betrieben gegen neue, ungewohnte Abläufe – und dann scheitert oft selbst ausgefeilte Technologie. In Radeberg habe die Belegschaft die digitale Transformation ihres Betriebes aber sehr engagiert mitgestaltet und nicht nur akzeptiert – angefangen bei all den Touch-Screenst an den Maschinen, den Tablet-Rechnern bis über das veränderte Auftragswesen und bis hin zur gewachsenen Eigenverantwortung, welcher Auftrag womöglich vorzuziehen ist, um eine unnötige Maschinenumrüstung zu sparen.

Aus Robotron-Resten ausgegründet

Mit Transformationen kennen sich die Radeberger freilich aus: Ihr Betrieb entstand 1994 als Ausgründung aus dem einstigen DDR-Computerbetrieb VEB Robotron Elektronik Radeberg. Die drei Gründer kamen zwei Dekaden nach der Wende aber ins Rentenalter und verkauften den Gehäuse-Auftragsfertiger 2010 an die Unternehmerfamilie Tiegel aus der Nachbargemeinde Ullersdorf. Ab 2016 investierte Kerstin Tiegel dann noch mal eine knappe Million Euro in den Betrieb mit seiner inzwischen 25-köpfigen Belegschaft, um den Maschinenpark weiter zu modernisieren, und ging 2022 eben auch die Digitalisierung der Fertigungsprozesse an.

Druck durch China, Korea, Osteuropa und Co. wächst in globalisierter Welt

Damit steht sie im Übrigen nicht allein da: Waren “Industrie 4.0” und “Digitalisierung” zunächst kapitalintensive Vorhaben, an die sich nur Autoriesen, Chipkonzerne und andere Großunternehmen heranwagten, schlagen inzwischen auch immer mehr kleine und mittelständische Industrieunternehmen (KMU) diesen Pfad ein, um in einer globalisierten Welt zu bestehen. “Der internationale Wettbewerb wird härter, der Druck auf die KMU nimmt zu – da können wir uns in Deutschland nicht mehr auf dem Polster unserer Ingenieurs-Traditionen ausruhen”, zählt EIT-Expertin Sivia Grätz einige Gründe für diese Digitalisierungs-Offensive im Mittelstand auf.

EU-Institut EIT verkuppelt junge Digitalisierungsschmiede mit arriviertem Industriebetrieb

Zudem seien die Einstiegshürden gesunken, die Technologien ausgereifter, die Hilfen zahlreicher geworden. Dazu gehört eben auch die Unterstützung durch das EU-kofinanzierte Unternehmen „European Institute of Innovation and Technology (EIT) Manufacturing”. Das fördert im Kommissionsauftrag Neuerungen und Weiterbildungen im europäischen Mittelstand, verkuppelt aber auch innovative Jungunternehmen mit arrivierten Industriebetrieben – und kofinanziert diese Kooperationen auch. Im konkreten Falle hatte das EIT-Team Kerstin Tiegel auf einer Messe mit der im Jahr 2019 gegründeten Digitalisierungs-Schmiede “5th Industry” zusammengebracht. Die versteht sich gewissermaßen als Treiber für die nächste Evolutionsstufe der Industrie 4.0, die eben nicht allein technologie-getrieben sein soll, sondern bei der vor allem der Mensch im Fokus stehen soll, wie Mitgründer Jan-Marc Lischka betont. Und eingedenk dieses Ansatzes sprachen die Berliner ihr Digitalisierungskonzept für die Radeberger Produktion dann eben nicht nur mit der Chefin oder irgendwelchen Managern durch, sondern mit der ganzen MFR-Belegschaft. “Mein Eindruck dabei war: Hier gab es nicht nur keine Widerstände gegen die Digitalisierung, sondern die Menschen waren richtig begeistert”, erinnert sich Lischka an den Schaffensprozess. “Solch einen Veränderungswillen wie hier würde man sich überall in Deutschland wünschen.”

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Vor-Ort-Besuch MFR, Interviews EIT, MFR, 5th Industry, Oiger-Archiv

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt