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Jahre als Frisör in Aleppo sollen auch hier etwas gelten

Andreas Sperl. Foto: IHK Dresden

Andreas Sperl. Foto: IHK Dresden

IHK Dresden fordert wegen Fachkräftemangel raschen Ausbau des Zertifizierungs-Pilotprogramms „Valikom“ für Flüchtlinge

Dresden, 11. April 2023. Angesichts des Fachkräftebedarfs auf der einen Seite und der hohen Zahl von Flüchtlingen ohne Berufsabschlüsse sollte der Bund das Pilotprojekt „Valikom“ rasch in ein reguläres Angebot in allen Industrie- und Handelskammern (IHK) umwandeln. Das hat der Dresdner IHK-Präsident Andreas Sperl gefordert. „Bei uns leben viele Menschen, die in ihren Heimatländern erfolgreich als Frisör, Kfz-Mechaniker oder Maschinenführer gearbeitet haben, aber keinen Berufsabschluss vorweisen können“, sagte Sperl. Auf diese menschlichen Ressourcen könne und wolle die sächsische Wirtschaft nicht verzichten.

Erklärvideo der westdeutschen
Handwerker zun Valikom-Projekt:

Valikom steckt seit 2018 in der Pilotphase fest – obwohl es funktioniert

Hintergrund: Klammert man einmal die vergleichsweise gut qualifizierten Ukrainer als Sonderfall aus, so haben etwa zwei Drittel aller Flüchtlinge im Freistaat keinen Abschluss. Manche können noch nicht mal ein Schulzeugnis vorweisen. Viele von ihnen haben aber vorher in Aleppo, Kabul, Teheran und anderen Städten in ihrer Heimat durch qualifizierte Tätigkeiten über Jahre hinweg ihren Lebensunterhalt verdient. Ähnlich sehen diese Quoten in anderen Bundesländern aus. Daher hatte der Bund 2018 in ausgewählten Pilotkammern – darunter auch der IHK Dresden – das Programm „Valikom“ gestartet. In diesen Pilotprojekten können Flüchtlinge ohne Abschluss ihre praktisch nutzbaren beruflichen Kompetenzen validieren lassen – daher der Name „Valikom“. Nach der Bewertung durch IHK-Experten bekommen die Teilnehmer dann ein Zertifikat. Bisher gilt solch ein Zertifikat zwar nicht als rechtlich vergleichbar mit einem formalen Berufsabschluss, erklärt IHK-Sprecher Lars Fiehler. Dennoch helfe das Papier den Absolventen, in einem geeigneten Betrieb eine ihren Qualifikationen angemessene Arbeit zu finden – die Unternehmen vertrauen da in aller Regel auf ein von der IHK ausgestelltes Zertifikat.

Zu wenig Personal: IHK Dresden verteilte nur 95 Zertifikate im Jahr 2022

In der personell eher schwachbrüstig ausgestatteten Pilotphase entlässt Valikom allerdings jedes Jahr nur homöopathische Mengen an Fachleuten auf den Arbeitsmarkt: An der IHK Dresden waren es beispielsweise im vergangenen Jahr in 16 Berufsgruppen gerade mal 95 nachzertifizierte Teilnehmer. Konzeptionell habe sich das Modell aber bewährt, betont Sperl. „Unsere Forderung ist daher, Valikom ab 2024 von einem Pilotprojekt in ein Standardangebot umzuwandeln.“ Einerseits könne dies mehr Flüchtlinge zu Jobs verhelfen. Anderseits werde solch ein Schritt auch die Arbeitssuche von deutschen Arbeitern erleichtern, die zwar jahrelang auch ohne Abschluss in einem Betrieb ihren Mann oder ihre Frau gestanden haben, nach einer Pleite oder Unternehmensschließung wieder auf der Straße landen. Und nicht zuletzt könne ein personell verstärktes Valikom-Programm auch die bislang oft recht komplizierte Anerkennung ausländischer Abschlüsse für Arbeiter erleichtern, die per Fachkräfteeinwanderungs-Gesetz nach Deutschland kommen wollen.

900.000 Sachsen gehen bis 2035 in den Ruhestand – Lücke ist nur schwer zu schließen

Und der Bedarf an Fachkräften im Freistaat sei groß, der Handlungsdruck stark, betont die für Ostsachsen zuständige IHK Dresden. „So werden in Sachsen bis 2035 mehr als 900.000 Personen altersbedingt aus dem Arbeitsprozess ausscheiden, was jedem fünften Erwerbstätigen entspricht“, erklärte Präsident Sperl. „Im Gegenzug reichen die Zuwächse über Ausbildung und Studium sowie das Heben von stillen Reserven, etwas bei der Teilzeit, der Frauenbeschäftigungsquote, der längeren Beschäftigung Älterer oder der Verringerung der Arbeitslosenzahl nicht ansatzweise aus, um die entstehende Lücke zu füllen.“

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: PK IHK Dresden, DIHK

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Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt