Casus-Nachwuchsforscher Dornheim kombiniert Casino- und KI-Methoden, um Jupiters Kern zu durchschauen
Görlitz, 22. November 2022. Der 32-jährige „Casus“-Wissenschaftler Dr. Tobias Dornheim aus Görlitz bekommt vom Europäischen Forschungsrat (ERC) ein knapp 1,5 Millionen Euro umfassende Stipendium für sein Projekt „Predicting the Extreme“ (Prextreme). Mit dem „ERC Starting Grant“ in der Tasche kann Dornheim bis 2027 seine Arbeit an neuen mathemischen Modellen vorantreiben. Diese innovativen Computer-Rechenmethoden sollen letztlich die extremen Drücke und Hitze in braunen Zwergsternen und Riesenplaneten wie Jupiter erklären, aber auch den Weg zu neuen Materalien wie etwa Nanodiamanten ebnen und das Design sehr strahlungsarmer Kernfusions-Reaktoren verbessern. Das geht aus einer Mitteilung des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR) hervor, zu dem das Görlitzer „Center for Advanced Systems Understanding“ (Casus) gehört.
Selbst die schnellsten Supercomputer machen nach ein paar Handvoll Teilechen schlapp
Tobias Dornheim sucht bereits seit Jahren nach Methoden, das komplexe quantenmechanische Zusammenspiel von Protonen, Neutronen und ähnlichen winzigen „Fermionen“-Teilchen im All und beim Design neuer Werkstoffe weit präziser und dennoch einfacher als bisher mathematisch zu beschreiben. Konkret haben es ihm dabei die extremen Bedingungen angetan, unter denen Wasserstoff und andere Elemente in sogenannter „warmer dichter Materie“ wechselwirken. Die existiert unter anderem im Innern von riesigen Planeten und kleinen Sternen, in die wohl nie ein Mensch hineingelangen wird, um nachzuschauen, was da passiert. Wenn es allerdings gelänge, die Einflüsse von Milliarden und Billionen Teilchen zu simulieren und aufzuaddieren, dann könnten die Astrophysiker diese warme dichte Materie auch ohne tollkühne Raumreisen verstehen lernen.
Daran sind bisher aber auch die weltweit stärksten Supercomputer gescheitert, weil der Rechenaufwand mit jedem weiteren simulierten Teilchen dramatisch steigt. Wissenschaftler nennen dieses Dilemma auch das „Fermionische Vorzeichenproblem“, sich eben der negative oder positive Beitrag all dieser einzelnen Teilchen zum großen Ganzen so schwer simulieren lässt. Bisher können die Superrechner entweder nur das Zusammenspiel weniger Handvoll Neutronen oder Elektronen nachstellen – oder es kommen lediglich sehr grobe Schätzungen heraus.
Wissenschaftler will Monte Carlo und Maschinelles Lernen kombinieren
Der Casus-Nachwuchsforscher versucht dieses Problem nun mit einer Kombination von Stichproben-Methoden nach dem „Monte-Carlo“-Zufallsprinzip, Künstlicher Intelligenz beziehungsweise „Maschinellem Lernen“ und anderen mathematischen Ansätzen zu lösen. Damit soll es möglich werden, auch komplexe Vielteilchen-Systeme ohne exponentiell steigende Rechenkraft zu simulieren. Eigens für diese Forschungen baut er seit Anfang 2022 am „Casus“-Institut seine eigene Nachwuchsgruppe „Grenzbereiche der rechnergestützten Quanten-Vielteilchentheorie“ auf. Dornheim rechnet nun mit dem Forschungsrat-Stipedium im Rücken auf große Fortschritte bei seiner Suche. „Im Ergebnis erhoffe ich mir, dass Fachleute verschiedenster Wissenschaftsgebiete – nicht nur aus der warmen dichten Materieforschung – damit Antworten auf Fragestellungen finden können, die aufgrund des Fermionischen Vorzeichenproblems bisher unbeantwortet geblieben sind.“
Casus widmet sich komplexen Systemen
Das Casus entstand 2019 als Ableger des HZDR, um sich eben solchen Problemen zu stellen, die in komplexen Systemen auftauchen: bei der Untersuchung kosmischer Phänomene, bei Klima- und Wetterprognosen, Verkehrsfluss-Analysen und dergleichen mehr. Der Instituts-Gründungsbeauftragte Dr. Michael Bussmann sieht in dem renommee-trächtigen ERC-Stipendium für Dornheim auch einen Beleg dafür, „dass es uns am Casus gelungen ist, in kurzer Zeit exzellente Talente nach Görlitz zu holen, die an der Spitze der internationalen Forschung stehen. Für mich ist dieser Erfolg eine Bestätigung dafür, dass der von uns eingeschlagene Weg der Exzellenz, Interdisziplinarität und Offenheit richtig ist.“
Wissenschaftsminister freut sich über Zuschläge für Sachsen
Neben Dornheim in Görlitz hat der Europäische Forschungsrat heute übrigens weiteren Wissenschaftlern in Sachsen Start-Stipendien zugesagt:
- Die Bildungsforscherin Prof. Nina Kollek von der Uni Leipzig untersucht den Einfluss von Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) auf das weltweite Bildungsgeschehen. „In vielen Teilen der Welt füllen NGOs bestehende Lücken in Bildungssystemen“, sagt die Forscherin. „Es ist wichtig, dass wir den Einfluss von transnationalen NGOs auf Bildungssysteme verstehen, sowohl für unsere Kinder als auch für die Zukunft unserer Gesellschaften.“
- Dr. Berthe Jansen von der Uni Leipzig erforscht die Van-Manen-Sammlung an der Universität Leiden mit Exponaten aus dem Himalaya.
- Der aus der Ukraine stammende Physiker Dr. Uri Vool vom Max-Planck-Institut für chemische Physik fester Stoffe (MPI-CPfS) Dresden analysiert Quanteninformationen für Quantenmaterialien und die Quantenelektrodynamik von Schaltkreisen. Seine „QIQM“-Forschungsgruppe unterhält ein eigenes Quantenlabor im Institut. Das vierköpfige Team ist auf Quantensensorik und hybride supraleitende Schaltkreise spezialisiert, die letztlich auf bessere Quantencomputer zielen.
- Bereits im Frühjahr 2022 erhielt Dr. Zohreh Hosseinzadeh einen „ERC Starting Grant“ für ihre Versuche, eine funktionsfähige menschliche Netzhaut künstlich aus Stammzellen zu erzeugen, um sie Menschen mit beschädigter Netzhaut einpflanzen zu können.
„Die Auswahl zeigt eindrucksvoll die Qualität der Spitzenforschung Sachsens in ganz unterschiedlichen Disziplinen“, kommentierte Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow (CDU) die Zuschläge. „Das sind beste Voraussetzungen für künftige Innovationen und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft insgesamt.“
Eine Übersicht über alle Stipendiaten ist hier beim ERC zu finden.
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: HZDR/Casus, SMWK, Uni Leipzig, ERC, MPI-CPfS, Oiger-Archiv
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