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DDR-Mikroelektronik war mehr als nur ein Kopierwerk

Thomas Haase (l.) und Andreas Kalz in der "CoolX"-Mikroelektronikschau in den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Thomas Haase (l.) und Andreas Kalz in der „CoolX“-Mikroelektronikschau in den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Neuer Alumni-Kreis aus Chip-Veteranen in Dresden will das Bild geraderücken, sie hätten nur beim Westen abgekupfert

Dresden, 1. November 2022. Die DDR-Mikroelektronik hat keineswegs nur von den Halbleiterkonzernen in den USA und Japan abgekupfert, wie oft angenommen, sondern hat auch eigene Beiträge zur Halbleitertechnologie geleistet und wegweisende Grundlagenforschung in diesem Sektor betrieben. Davon ist Informationstechnologie-Kustos Dr. Ralf Pulla von den Technischen Sammlungen Dresden (TSD) überzeugt. Um diese Kapitel der jüngeren Technik- und Wirtschaftsgeschichte klarer als bisher aufzubereiten, hat sich nun ein Arbeitszirkel ehemaliger ostdeutscher Halbleiter-Experten gegründet, mit dem der Kustos zusammenarbeiten will.

Der ostdeutsche Megabit-Chip vom ZMD. Abb.: hw

Der ostdeutsche Megabit-Chip vom ZMD. Abb.: hw

Ähnlich wie die „Robotroner“ tun sich nun auch die Halbleiter-Senioren zusammen

Dieser 40-köpfige „Alumni-Kreis“ hat sich kürzlich um die Dresdner Chip-Veteranen Dr. Andreas Kalz und Thomas Haase unter dem Dach des sächsischen Hochtechnologie-Verbandes „Silicon Saxony“ formiert. „Wir wollen eine breitere Öffentlichkeit auf die Leistungen der DDR-Mikroelektronik aufmerksam machen“, erklärt Kalz die Motive hinter dieser bereits seit Jahren vorbereiteten Gründung. „Wir möchten auch die heutigen Halbleiter-Unternehmen im Silicon Saxony mit einbinden.“ Außerdem werde der Alumni-Kreis all jene kleinen Geschichten von Zeitzeugen aus der ostdeutschen Halbleiter-Geschichte sammeln, die drei Jahrzehnte nach der Wende mit den inzwischen schon betagten Protagonisten in Vergessenheit zu geraten drohen, ergänzt Haase. Gedacht ist der Alumni-Kreis auch als Gegenstück zur AG Rechentechnik und den anderen Zirkeln ehemaliger Robotroner, die sich bereits intensiv mit der Geschichte der Rechentechnik in Sachsen auseinandersetzen – also jener Industrie, die in der Wertschöpfungskette eigentlich erst nach der Chipproduktion folgt.

Kurator Dr. Ralf Pulla von den Technischen Sammlungen Dresden, in der von ihm kuratierten Ausstellung "Welt im Kasten: Foto – Kino – Video“. Hier steht er hinter einer frühen Fotokamera, deren Belichtungszeit so lange war, dass der Kopf der zu fotografierenden Menschen mit Stangen abgestützt wurde, um ein Verwackeln zu verhindern. Foto: Heiko Weckbrodt

Kurator Dr. Ralf Pulla von den Technischen Sammlungen Dresden. Das Archivbild zeigt ihn in der von ihm kuratierten Ausstellung „Welt im Kasten: Foto – Kino – Video“. Foto: Heiko Weckbrodt

TSD-Kustos Pulla: Dann kann auch ein Forum zur Zukunft der Mikroelektronik in Sachsen sein

„Daraus könnte sich ein breites Forum für die Geschichte, aber auch für die Gegenwart und Zukunft der Mikroelektronik in Sachsen entwickeln“, prognostiziert TSD-Kustos Pulla. „Und für uns als Technische Sammlungen bietet dies neue Möglichkeiten.“ Zum Beispiel hofft er, mit Hilfe der ehemaligen DDR-Chipexperten die Hintergründe mancher seiner Exponate besser einzuordnen, unbeschriftete Artefakte endlich überhaupt katalogisieren zu können und Lücken im Museums-Bestand zu schließen.

„Hochvakuum Dresden ist noch ein blinder Fleck“

Beispiel: Die TU Dresden besitzt noch einen Kathodenzerstäuber („Sputter“), den der VEB Hochvakuum Dresden (HVD) einst eigens für die DDR-Chipproduktion entwickelt hatte. „Die Uni will das aussondern“, berichtet Aluminikreis-Mitgründer Thomas Haase. „Womöglich könnten die Technischen Sammlungen die Sputter-Anlage übernehmen.“ Das würde auch der Kustos für sinnvoll halten: „Hochvakuum Dresden war ein besonders wichtiger Betrieb für ostdeutsche Schlüsseltechnologie-Strategie“, schätzt er ein. „Aber davon haben wir kaum etwas in unseren Bestand. HVD ist noch wie ein blinder Fleck für die Technischen Sammlungen.“

Alumni sollen helfen, die „Steinmetz-Zeichen“ der DDR-Halbleitergranden zu entziffern

Ein weiteres Beispiel ist eine Gepflogenheit führender Halbleiter-Ingenieure, individuelle Zeichen in die Chips einzuätzen, die sie entworfen hatten – ganz ähnlich wie die Steinmetz-Zeichen in den Steinen mittelalterlicher Dome. „Wir wissen zum Beispiel, dass Megabit-Chefkonstrukteur Dr. Jens Knobloch einen Frosch verwendet hat. Aber viele ,Steinmetzzeichen’ in den DDR-Chips können wir wohl nur mit Hilfe der Alumni entschlüsseln.“

Bisher gibt es weltweit erst ganz wenige EUV-Chipbelichter. Hier ist der Scanner von ASML aus den niederlanden mit visualisiertem Strahlengang durch die Röntgenspiegel zu sehen. Foto: ASML

EUV-Chipbelichter von ASML aus den Niederlanden mit visualisiertem Strahlengang durch die Röntgenspiegel. Foto: ASML

Röntgen-Litho: Womit TSMC heute Kohle macht, daran forschte auch schon die DDR

Zudem ist zwar schon viel über die ostdeutsche Halbleiterindustrie geschrieben worden. Doch fokussiert haben sich viele Publikationen vor allem auf die teure und letztlich wirtschaftlich nur mäßig erfolgreiche Aufholjagd, auf die durch Stasi, Alexander Schalck-Goldkowski & Co. „besorgten“ Embargo-Anlagen und -Prozessoren aus dem Westen und die Versuche der DDR, all dies mit ihren beschränkten Bordmitteln nachzubauen. „In Ostdeutschland hat man aber zum Beispiel auch an Belichtungstechniken mit Röntgen-, Elektronen- und Ionenlithografie geforscht, die ihrer Zeit voraus waren“, berichtet Physiker Andreas Kalz, der jahrelang an Schlüsselprojekten des „Zentrums Mikroelektronik Dresden“ (ZMD) mitgearbeitet hatte und nach der Wende bei Fraunhofer und AMD tätig war. Diese Projekte wurden zwar letztlich wieder eingestellt, auch wegen der erheblichen Ressourcen, die sie banden. Doch erinnert sei daran, dass heute Unternehmen wie TSMC nur dank Lithografie mit weichem Röntgenlicht – heute Extrem-Ultraviolett-Litho (EUV) genannt – die allerneuesten Chips in kleinsten Strukturbreiten unterhalb von zehn Nanometern herstellen können. Übrigens steckt in diesen EUV-Anlagen letztlich auch ostdeutsches Knowhow.

Netz aus Polytechnischen Museen nach SU-Konzept war auch in der DDR geplant

Für die Technischen Sammlungen wiederum ist der neue Mikroelektronik-Alumnikreis ein gewissermaßen organisch gewachsener Kooperationspartner. Der Elektronik-Schwerpunkt war den TSD nämlich schon in die Wiege gelegt: Der Nukleus der heutigen städtischen Museums geht auf die sowjetische Idee zurück, Netze aus jeweils regional spezialisierten „Polytechnischen Museen“ in den sozialistischen Ländern aufzubauen. Auch in der DDR sollte in den 1960er Jahren in jedem Bezirk je ein Polytechnisches Museum entstehen, das Exponate aus der Leitindustrie des jeweiligen Bezirks sammelt und ausstellt. Tatsächlich realisierten die Kulturkader allerdings nur einen kleinen Teil dieser Projekte.

Dresdner Poly-Museum sollte Gegenstück zum Deutschen Museum München werden

Gerade für den Bezirk Dresden hatte die ostdeutsche Führung recht ehrgeizige Pläne: Im Dresdner „Johanneum“ sollte ein besonders großes polytechnisches Museum mit dem Schwerpunkt „Elektronik“ entstehen, das dem Deutschen Museum in München Paroli bieten sollte. Zwar wurde auch daraus bekanntermaßen nichts. Statt dessen bekam das Verkehrsmuseum das Gebäude in Schlossnähe. Immerhin entstand aber 1966 ein Technikmuseum mit Elektronik-Fokus in Dresden. Das war allerdings viele Nummern kleiner als ursprünglich geplant und bekam nur magere 300 Quadratmeter an der damaligen Friedrich-Engels-Straße – im heutigen Kulturrathaus an der Königstraße. 1969 übernahm das Haus noch eine Photo- und Kinotechnik-Sammlung und wurde dadurch nun wirklich zum „Polytechnischen Museum“. Während der Bestand weiter wuchs, verkleinerte sich die Ausstellungsfläche sogar noch, als das Museum 1988 in eine Villa in Blasewitz umziehen musste. Erst nach der Wende kam der Quantensprung: Das Museum erbte die Kollektionen des Pentacon-Kombinats, nannte sich fortan „Technische Sammlungen Dresden“ und zog in die ehemaligen Ernemann-Kamerawerke in Striesen um.

... und der Nachbau: der legendäre 32-Bit-Rechner K 1814 von robotron in den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Der legendäre 32-Bit-Rechner K 1814 von Robotron in den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Rechentechnik bereits stark präsent

Seither sind unter anderem ein Mathe-Erlebnisland für Kinder, die Mikroelektronik-Ausstellung „CoolX“, ein Schülerlabor und anderes mehr hinzugekommen. Inzwischen gibt es auch eine breite Dauerausstellung über Rechentechnik aus Sachsen. Und die AG Rechentechnik, die sich an die TSD angedockte, hat auch die Geschichte des DDR-Computerkombinats Robotron aufgearbeitet. Die Chipindustrie ist einerseits durch ein facettenreiches, aber eher kleines Kabinett mit Exponaten aus der sächsischen Mikroelektronik-Geschichte vertreten und anderseits durch die erwähnte CoolX-Schau, die auf den „Cool Silicon“-Forschungsverbund zurückgeht. Geplant ist auch ein „Chiplab“ – ein Schülerlabor, in dem sich Jugendliche die Halbleiterherstellung besser kennenlernen sollen.

In der neuen Mikroelektronik-Ausstellung: Dresdner Layout-Masken aus den 1970er Jahren, aus denen noch manuell mit Pinzetten die Stellen herauszwickten, an denen - vielfach verkleinert - später die Chipstrukturen belichtet wurden. Abb. (alle): hw

Dresdner Layout-Masken aus den 1970er Jahren in der Mikroelektronik-Ausstellung der TSD. Foto: Heiko Weckbrodt

Größte Sammlung zur DDR-Mikroelektronik schlummert in Striesen

Nicht zuletzt schlummert in Dresden-Striesen auch ein Schatz für Technikhistoriker und Halbleiter-Connoisseure. Denn die TSD haben über Dekaden hinweg auch unzählige ostdeutsche Schaltkreise und Halbleiter-Bauelemente gesammelt. Die harren nun in Depots ihrer Wiederentdeckung durch Wissenschaftler und sind höchstens mal in Sonderausstellungen für das Publikum zu sehen. Dazu gehören Transistoren aus Teltow, Prozessoren aus Erfurt, Analog-Schaltkreise aus Frankfurt an der Oder und Speicherchips aus Dresden. Auf Regalen, Tischen und Paletten stapeln sich aber auch Chipmasken, Siliziumscheiben, Anlagen-Prototypen vom VEB Elektromat Dresden und vieles mehr. „Wir haben so ziemlich alles Halbleiter, die die DDR je hergestellt hat“, sagt Kustos Pulla. In Summe verfügen demnach die TSD über den größten Sammlungsbestand zur ostdeutschen Mikroelektronik überhaupt – ein Pfund, das die sächsischen Chip-Alumni nun vermutlich noch mal ein ganzes Stück weit aufwerten werden.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Interviews Pulla, Kalz, Haase, Oiger-Archiv, StadtwikiDD, Wikipedia

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt