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Neue Technologieketten für Straßenbahnbau formen sich in Sachsen

Sächsische Unternehmen entwickeln derzeit eine Wasserstoff-Straßenbahn, die die Abwärme ihrer Brennstoffzelle besonders effizient verwertet. Grafik: Dall-E (KI-generiert)

Sächsische Unternehmen entwickeln derzeit eine Wasserstoff-Straßenbahn, die die Abwärme ihrer Brennstoffzelle besonders effizient verwertet. Grafik: Dall-E (KI-generiert)

Hörmann, Heiterblick und Co. entwickeln Europas erste Wasserstoff-Tram und autonome KI-Straßenbahn

Chemnitz, 4. Oktober 2022. Sächsische Maschinenbauer, Fahrzeugingenieure und Verkehrsunternehmen sind dabei, neue Wertschöpfungsketten für den Bau zukunftsweisender Schienenfahrzeuge im Freistaat zu formen. Kernvorhaben sind autonom fahrende Straßenbahnen sowie Europas erste Tram mit Wasserstoff-Antrieb. 2025 soll die Wasserstoff-Straßenbahn erstmals fahren. Das geht aus Angaben von „Hörmann Vehicle Engineering“ aus Chemnitz hervor.

Regionale Wertschöpfungskette wächst zusammen

Für den Entwurf zeichnet „Hörmann“ verantwortlich. Den Bau der Straßenbahnen übernimmt „Heiterblick“ aus Leipzig. Die „Künstliche Intelligenz“ (KI) will „Fusion Systems“ aus Chemnitz den Straßenbahnen einpflanzen. Für die Abwärme-Nutzung denken sich die Forscher vom Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung (Ifam) Dresden sowie vom Institut für Luft- und Kältetechnik (ILK) innovative Lösungen aus. Automatisierungslösungen kommen von der „Flexiva Automation & Robotik“ aus Amtsberg bei Chemnitz. Die Testfahrten sind bei den Verkehrsbetrieben in Chemnitz und Görlitz geplant.

H2-Tram: Innovative Abwärme-System soll Reichweite von Brennstoffzellen-Bahn steigern

Das besondere Vorzeigeprojekt ist dabei zweifellos die „H2-Tram“: eine durch wasserstoff-betankte Brennstoffzellen angetriebene Straßenbahnen, die auch jene Vororte von Städten erreichen kann, in die keine Oberleitungen führen. Ein besonderer Clou ist sind die neuartigen Verwertungssysteme für die – eigentlich unerwünschte – Abwärme, die jede Brennstoffzelle neben Strom produziert. Diese Wärme wollen die Ingenieure einsetzen, um die Straßenbahn im Winter zu heizen und im Sommer zu kühlen. Dies soll den Wasserstoff-Verbrauch senken steigern. Die Projektpartner rechnen damit, dass „die neuartige ganzheitliche Vorgehensweise die Reichweite um 25 % erhöht“. 

Erste Testfahrten 2025 in Görlitz

„Damit sind wir europaweit vorn“, betonen die Hörmann-Ingenieure. Schon jetzt gebe es dafür großes Interesse internationaler Bahnbau-Konzerne, die diese Technik ebenfalls haben wollen. Die Chemnitzer wollen zudem schon während des Entwurfs einen „Digitalen Zwilling“ der Straßenbahn im Computer generieren, mit dem sich noch vor der ersten physischen Testfahrt solche Parameter wie Verbrauch, Fahrverhalten und Beschleunigung erproben lassen. 2025 sollen dann die ersten realen H2-Trams in Görlitz ihre Testfahrten starten. Perspektivisch nutzbar ist die Technologie womöglich auch – in angepasster Spurbreite – für Regionalstrecken, auf denen zwar Schienen verlegt sind, bisher aber Dieselloks oder -Triebwagen pendeln. Im Eisenbahn-Sektor gibt es allerdings bereits Konkurrenzlösungen auf der Schiene.

„Smartram“: KI am Steuer, Mensch kann aus der Ferne eingreifen

Das zweite technologisch besonders ambitionierte Entwicklungsvorhaben von Hörmann, Heiterblick und weiteren sächsischen Partnern ist die „Smartram“. Die Ingenieure arbeiten hier an einer autonom fahrenden Straßenbahn, die notfalls aber auch von einem Menschen aus einer Leitzentrale heraus ferngesteuert werden kann, wenn sich die KI überfordert fühlt. Gewählt haben die Ingenieure dabei eine hybride Lösung: Durch zahlreiche Sensoren und Auswerteelektronik soll die „Smartram“ einerseits imstande sein, sich selbst auf ihrem Schienenweg zu orientieren und Hindernisse zu erkennen, anderseits aber auch „intelligente“ Infrastrukturen am Gleisrand zur Navigation und Fahrplanung nutzen.

KI-Tram soll 2025 Besucher der Kulturhauptstadt kutschieren

Der Prototyp soll zunächst auf einem Testgelände der Chemnitzer Verkehrsbetriebe erste Testfahrten absolvieren. Um die Erprobung soll sich das Kompetenzzentrum Bahntechnik und Luftfahrt Dresden der bayrischen „Industrie­anlagenbetriebs­gesellschaft“ (IABG) kümmern. Wenn Chemnitz dann im Jahr 2025 als „Kulturhauptstadt Europas“ zahlreiche Besucher empfängt, sollen dann auch erste Pendeltouren auf besonders kontrollierten Stadtstrecken möglich sein. In Zukunft könnten solche fahrerlosen Straßenbahnen, die von einer Leitstelle aus fernüberwacht werden, die Personalkosten im öffentlichen Nahverkehr senken. Dies wiederum könnte – womöglich in einer Kombinations-Lösung mit der H2-Tram – auch wieder mehr Straßenbahn-Verbindungen in die Vororte und Dörfer hinein für Kommunen bezahlbar machen.

Volkmar Vogel leitet bei Hörmann Chemnitz die Geschäftsentwicklung - und gehört zu den Gründern der sächsischen Ingenieurschmiede. Foto: Heiko Weckbrodt

Volkmar Vogel leitet bei Hörmann Chemnitz die Geschäftsentwicklung – und gehört zu den Gründern der sächsischen Ingenieurschmiede. Foto: Heiko Weckbrodt

Hörmann Chemnitz aus VEB Designprojekt gewachsen

Für beide Projekte können die Hauptprotagonisten auf jahrzehntelange Erfahrungen zurückgreifen. Beim Entwurf kompletter und innovativer Bahnfahrzeuge mache den Chemnitzern so schnell niemand etwas vor, meint Volkmar Vogel, der die Ingenieurschmiede 1989 aus dem VEB Designprojekt Karl-Marx-Stadt heraus gegründet hatte und sie schließlich mit der Hörmann-Gruppe zusammenführte. Zudem nutzen die sächsischen Hörmann-Entwickler auch ihre Expertise in benachbarten Technologiefeldern: Sie beschäftigen sich beispielsweise mit neuen Leichtbau-Konzepten für Eisen- und Straßenbahnen, arbeiten unter anderem an ultraleichten Waggon-Fahrgestellen mit integrierter Blattfederung, haben aber auch Baugruppen für Motorräder von BMW, MZ und anderen Partnern designt.

Heiterblick war einst Werkstatt der Leipziger Verkehrsbetriebe

Heiterblick wiederum geht auf die ehemalige Hauptwerkstatt der Leipziger Verkehrsbetriebe zurück, die 2004 als eigener Bahn-Fahrzeugbauer ausgegründet wurde. Heute hat das nach einem Leipziger Stadtteil benannte Unternehmen rund 100 Beschäftigte.

Hecht & Co.: Sachsens lange Traditionen im Straßenbahn-Bau

Zudem gelten Sachsen und Mitteldeutschland seit jeher als traditionsreiche Standorte für den Bau innovativer Straßenbahnen. Ein Beispiel ist der seinerzeit trendsetzende „Große Hechtwagen“, an dessen Konstruktion vor rund 100 Jahren die Dresdner Straßenbahn AG, die Waggonbaufirma Christoph & Unmack aus Niesky und das Sachsenwerk in Dresden-Niedersedlitz beteiligt waren. Auch der Waggonbau Görlitz, Lowa Werdau und die Gothaer Waggonfabrik bauten bis in die DDR-Zeit hinein Straßenbahnen. Die RGW-Arbeitsteilung, in deren Zuge dann Tatra-Straßenbahnen im Ostblock dominierten, unterbrach zwar ab Ende der 1960er Jahre diese sächsischen und mitteldeutschen Straßenbahn-Bautraditionen. Nach der Wende begann aber beispielsweise die Deutsche Waggonbau AG in Bautzen, Niesky und Görlitz – erst in der Regie von Bombardier, dann von Alstom – wieder Straßenbahnen und Bahnwaggons zu bauen. Die Zukunft dieser sächsischen Bahnbau-Standorte wackelte zwar immer wieder. Dennoch bekamen die Werke in Görlitz und Bautzen immer wieder auch Straßenbahn-Bauaufträge. Dazu gehört auch der 197 Millionen Euro umfassende Auftrag der Dresdner Verkehrsbetriebe für den Bau des neuen Stadtbahnwagens NGT DX DD für die sächsische Landeshauptstadt.

Die Visualisierung zeigt den Innenraum der künftigen Dresdner Straßenbahnwagen. Grafik: DVB AG

Die Visualisierung zeigt den Innenraum der künftigen Dresdner Straßenbahnwagen. Grafik: DVB AG

Als Kompletthersteller von Straßenbahnen ist „Heiterblick“ Leipzig demgegenüber noch vergleichsweise neu im Geschäft, hat aber auch schon einige Großaufträge an Land gezogen. So bekamen die Leipziger beispielsweise 2021 gemeinsam mit dem Partner Kiepe Electric eine insgesamt 600 Millionen Euro umfassende Order über die Entwicklung und den Bau einer neuen Straßenbahn-Generation von den Verkehrsunternehmen aus Zwickau, Görlitz und Leipzig.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Hörmann (Vor-Ort-Besuch), Heiterblick, SMWA, IABG, Now GmbH, Oiger-Archiv

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt