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„Versagtes Vertrauen: Wie die Stasi und ihre Komplizen DDR-Wissenschaftler kalt ausgebootet haben

Der Mikroelektronikpionier Werner Hartmann im Jahr 1970. Abb.: Privatarchiv Renee Hartmann/Repro: hw

Der Mikroelektronikpionier Werner Hartmann im Jahr 1970. Abb.: Privatarchiv Renee Hartmann/Repro: hw

Neues Werk von Reinhard Buthmann skizziert an vielen Beispielen, wie sehr der ostdeutsche Geheimdienst „bürgerlichen“ Forschern misstraute

Wie die Staatssicherheit einst „bürgerliche“ Wissenschaftler argwöhnisch beobachtete, oft auch drangsalierte oder gar kalt stellte, hat der Zeithistoriker und ehemalige Kosmosforscher Reinhard Buthmann recherchiert und in seinem Buch „Versagtes Vertrauen. Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit“ dargestellt. Auf knapp 1200 Seiten spannt er in diesem – im wahrsten Sinne des Wortes – gewichtigen Werk einen weiten Bogen. Der beginnt mit „Wissenschaft von der Tradition zur Moderne“ (Kapitel 3) und erstreckt sich über die Erwartungen und Anmutungen der Staatspartei SED hinweg bis zu der wachsenden Rolle des Geheimdienstes. Letztere analysiert der Autor akribisch am Beispiel der Hochtechnologien Mikroelektronik, Raumforschung, Kerntechnik und Flugzeugbau (Kapitel 4).

Autor war einst Akademie-Wissenschaftler, später bei der Stasi-Unterlagenbehörde

Buthmann war von 1976 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kosmosforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) und danach Mitarbeiter der Abteilung „Bildung und Forschung“ beim „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes“ (BStU). In seinem neuen Werk geht er nicht nur weit über seine im Jahre 2000 in der Reihe „Analysen und Berichte“ erschienene Studie „Hochtechnologien und Staatssicherheit“ hinaus, sondern bietet mit den beiden Schlusskapiteln „Spionage, Sabotage und Gutachten“ sowie „Mitarbeiter des MfS“ auch eine, wie er es nennt, „Spezifische Vertiefung“ an (Kapitel 5).

Scheiterns eines Gesellschaftsmodells, das sich auf die Wissenschaft berief

Ist der Titel „Versagtes Vertrauen“ als Programm oder als Ergebnis, als Ausgangsthese oder Bilanz dieser spezifischen Vertiefung zu verstehen? Buthmann fordert damit zum Nachdenken auf, provoziert vielleicht sogar Widerspruch angesichts des Scheiterns eines Gesellschaftsmodells, das sich in vielerlei Hinsicht auf die Wissenschaft berief. Der Untertitel unterstreicht die Fokussierung des Autors auf den Staatssicherheitsdienst, dessen intimer und sensibler Kenner er zweifellos ist. Sein privilegierter Zugang zu den Stasi-Akten bedeutet aber keineswegs, dass er Quellen anderer Provenienz vernachlässigt. Neben dem BStU nennt er die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und die Technischen Sammlungen Dresden sowie die relevanten Fachministerien. Hinzu kommt noch eine beträchtliche Menge an Literatur.

Forschung nicht nur in Akademie und Unis, sondern auch in Kombinaten

Mit der untersuchten Personengruppe, also den Wissenschaftlern der DDR, und den bereits genannten Fallbeispielen nimmt der Autor das gesamte Innovationssystem der DDR in den Blick. Forschung und Entwicklung fanden dort nicht nur an den Hochschulen und Universitäten sowie den Instituten der nach sowjetischem Muster organisierten Akademie der Wissenschaften statt, sondern, und das vor allem, als Industrieforschung in den Betrieben und Kombinaten.

Buthmann rechtfertigt den Respekt einflößenden Umfang seiner „Untersuchung“ mit dem Hinweis, dass „viele Studien einen erheblichen Mangel an Erfahrungswissen aufweisen und sich somit Standardbehauptungen, gleich ob berechtigt oder nicht, verfestigt haben“ (S. 9) – ein Plädoyer für Zwiefachkompetenz in der Technikgeschichte.

Ministerin Honecker wollte „alles Reaktionäre“ ausmerzen

In seinem Exkurs „Wissenschaft von der Tradition zur Moderne“ illustriert Buthmann anhand zahlreicher bedeutender und auch einiger weniger bekannter Wissenschaftler das von gegenseitigem Misstrauen geprägte Verhältnis zwischen den „bürgerlichen Wissenschaftlern“ der DDR und der Staatspartei. Diese Wissenschaftler „lebten ein Selbstverständnis, das sich definitiv als ‚unpolitisch‘ begriff sowie konsequent Wissenschaft und Politik voneinander trennte“, und wurden vom MfS „abfällig als ‚Nur-Wissenschaftler‘ apostrophiert“ (S. 48). 1978 konnte Margot Honecker, die Ministerin für Volksbildung, öffentlichkeitswirksam konstatieren, dass inzwischen selbst in den Schulen „alles Reaktionäre“ ausgemerzt sei (S. 74). Als „verheißungsvolle ideologische Proklamation an die Zukunft“, so Buthmann, schuf die SED das Leitbild eines „neuen Menschen“, das auch als Gegenentwurf zum bürgerlichen Wissenschaftler zu interpretieren war (S. 99). Allerdings zeigten sich schon Ende der 1960er Jahre erste Anzeichen der Erosion sozialistischer Utopien, die stärker „auf große Schlagworte wie Kernkraft und Raumfahrt“ als „auf Machbarkeit und Technologie“ setzten (S. 102).

Der ehrgeizige Chefkonstrukteur Brunolf Baade (r.) neben seiner 152. Repro aus: Holger Lorenz: Die Variante II des DDR-Jets "Baade-152"

Der ehrgeizige Chefkonstrukteur Brunolf Baade (r.) neben seiner 152. Repro aus: Holger Lorenz: Die Variante II des DDR-Jets „Baade-152“

Beispielfälle aus den Schlüsseltechnologie-Sektor porträtiert

Im 4. Kapitel personalisiert der Autor die Auswirkungen von systemimmanenten Dysfunktionalitäten, Indoktrination und institutionalisierter Repression anhand der Protagonisten von vier Disziplinen aus dem Bereich der sogenannten Hochtechnologien beziehungsweise Schlüsselindustrien der DDR. Für die Mikroelektronik ist das Werner Hartmann (Jahrgang 1912), für die Raumforschung Ernst August Lauter (Jahrgang 1920), für die Kernforschung Heinz Barwich (Jahrgang 1911), für den Flugzeugbau sind es Brunolf Baade (Jahrgang 1904) und Fritz Freytag (Jahrgang 1908). Mit Ausnahme von Lauter waren sie alle rund ein Jahrzehnt in der Sowjetunion interniert.

Insiderwissen aus der ostdeutschen Raumforschung

Ausgesprochen hilfreich ist die fachgeschichtliche Einführung und Erläuterung von Schlüsselbegriffen auf den Gebieten Mikroelektronik und Raumforschung, die dort dem „diachronen“, also entwicklungsgeschichtlichen Bericht mit dem jeweiligen Protagonisten im Mittelpunkt des Geschehens vorangestellt sind. Kerntechnik und Flugzeugbau attestiert Buthmann, „vergleichsweise gut erforscht“ zu sein. Dennoch sei „nach wie vor nicht zufriedenstellend geklärt, warum es zu einem Abbruch beider Unternehmungen gekommen ist“ (S. 915).

Blick in die Reaktorwarte Rossendorf zu DDR-Zeiten. Foto: VTKA

Blick in die Reaktorwarte Rossendorf zu DDR-Zeiten. Fotonachweis: VTKA

Dem möchte der Rezensent ausdrücklich widersprechen. Was die Liquidierung der Luftfahrtindustrie betrifft, so sei auf Seite 1024 verwiesen. Wenn unter „Abbruch“ der Kerntechnik der Rückbau sämtlicher Reaktoren am Standort Greifswald verstanden wird, statt deren sicherheitstechnische Ertüchtigung, so ist das vor allem dem Eigeninteresse der westdeutschen Energieversorger anzulasten. Zu diesem Ergebnis kommt eine federführend vom Hannah-Arendt-Institut erarbeitete Studie „Zur Geschichte der Kernenergie in der DDR“ aus dem Jahre 2000, an der überwiegend Autoren „mit Erfahrungswissen“ beteiligt waren.

Die Raumforschung nimmt mit 299 Seiten den größten Raum in diesem Kapitel ein, was angesichts des aktuellen Forschungsstandes und dem Insiderstatus des Autors nur allzu verständlich ist.

"Mein Mann war ein Arbeitstier", erinnert sich seine Witwe Renee Hartmann. Abb.: Archiv R.H.

„Mein Mann war ein Arbeitstier“, erinnert sich Werner Hartmanns Witwe Renee Hartmann. Abb.: Archiv R.H.

Halbleiter-Pionier Hartmann mit Hilfe des MfS regelrecht vernichtet

Werner Hartmann, auch „Vater der Mikroelektronik der DDR“ genannt, ist der einzige im sowjetischen Projekt „Atomnaja Bomba“ tätig gewesene Wissenschaftler, der mit Hilfe des MfS regelrecht vernichtet wurde. Buthmann sieht hinreichende Indizien dafür, dass die Initiative von Günter Mittag ausging, seit 1976 Leiter der Wirtschaftskommission beim Politbüro des Zentralkomitees der SED. Beweise dafür gebe es nicht, räumt er ein. Eine Intrige leitender Mitarbeiter Hartmanns, unter denen nicht nur linientreue und skrupellose Parteigenossen waren, sondern auch ein Inoffizieller Mitarbeiter des MfS, hat es hingegen auf jeden Fall gegeben.

Nicht immer war das MfS involviert

Dem Drängen ehrgeiziger Genossen, sogenannte „bürgerliche Wissenschaftler“, denen der Autor ein eigenes Unterkapitel widmet, aus Führungspositionen heraus zu drängen, war schon 1970 Helmuth Faulstich (Jahrgang 1914) zum Opfer gefallen, der Direktor des Zentralinstituts für Kernforschung der Akademie der Wissenschaften – ohne aktive Mitwirkung des MfS. Der Elektrotechniker Faulstich, als Spezialist für Militärtechnik gleichfalls zehn Jahre in der Sowjetunion interniert, wurde schlicht „weggemobbt“.

Manche kollaborierten mit Stasi, um persönliche Interessen durchzusetzen

Sein Vorgänger, Heinz Barwich, hatte sich 1955, kurz nach seiner Ankunft in der DDR, als Inoffizieller Mitarbeiter anwerben lassen. Neben wissenschaftspolitischen Zielen verfolgte er auch rein persönliche Interessen, beispielsweise mit Hilfe des MfS ein Haus mit mindestens sechs Zimmern erwerben zu können. Von einer Dienstreise in die Bundesrepublik war er 1964 nicht in die DDR zurückgekehrt.

Fritz Freytag, Chefkonstrukteur der Flugzeugwerke Dresden und von Buthmann als mögliche Schlüsselfigur der Liquidierung der Luftfahrtindustrie im Jahre 1961 identifiziert (S. 1024), ließ sich anwerben, weil er sich vom MfS Hilfe versprach, einen in seinem Haus wohnenden Mieter zum Ausziehen zu veranlassen. Auch Freytag kehrte der DDR den Rücken, und zwar bereits im Herbst 1960.

Raumforscher Lauter durch fünf junge Kollegen in die Enge getrieben

Ernst August Lauter, der „Prophet der Raumforschung“ und ein „offener, interessierter Mensch“, wie der Autor feststellt (S. 616), war seit 1951 Direktor des Observatoriums für Ionosphärenforschung und seit 1957 Professor für Physik der Atmosphäre an der Universität in Rostock. Mit einer Unterbrechung leitete er für zwei Amtszeiten als Direktor auch das Zentralinstitut für solarterrestrische Physik der AdW. „Lauter passte nicht in das Akklamationssystem der DDR und war kein Schauspieler“. Bereits 1959 der SED beigetreten, war er „vier Jahre bis zu seiner ‚multiplen Degradierung‘ Generalsekretär der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“, so Buthmann (S. 617). Obwohl Lauter „nie zuvor und auch nicht danach“ ein Spitzenfunktionär der DDR war, „gleichzeitig so viele, teils bedeutende Funktionen in Ost und West“ bekleidete (S. 617), konnte er sich auf Dauer nicht behaupten. Seine schleichende Entmachtung durch „fünf jüngere Wissenschaftler, allesamt Top-IM des MfS“ (S. 914) ermöglichte die Abkehr von der Grundlagen- und angewandten Forschung und eine Wendung hin zum wissenschaftlich-technischen Gerätebau für Interkosmos-Satelliten. Hätte man Lauter nicht eingeengt, sondern unterstützt, glaubt der Insider Buthmann, so hätte dieser „tatsächlich Weltruhm nicht nur mit seinem Projekt SESAME (Struktur und Energetik der Strato- und Menosphäre) erlangt, auch der Forschungsstandort Potsdam-Berlin-Warnemünde wäre rasch führend in der Welt geworden“ (S. 913).

Fazit: ein Standardwerk zum wissenschaftlich-wirtschaftlichen Scheitern der DDR

Der Forschungsgegenstand „DDR“ gilt seit Jahren als „überforscht“. Dennoch kommt Buthmann mit seinem monumentalen Werk nicht zu spät. Die Fülle des Materials und die Konzentration auf zukunftsbestimmende Technologien machen diese quellengesättigte Analyse zu einem Standardwerk für alle diejenigen, die fragen, warum die DDR nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich gescheitert ist. Zum Schluss sei die rein hypothetische Frage erlaubt, was in der Zentralverwaltungswirtschaft einer „Diktatur des Proletariats“ wohl anders gelaufen wäre, hätte die Parteiführung den Wissenschaftlern Vertrauen entgegengebracht, statt sie zu indoktrinieren?

Umschlag von Reinhard Buthmann, Versagtes Vertrauen. Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit, Göttingen 2020, Vandenhoek & Ruprecht

Umschlag von Reinhard Buthmann, Versagtes Vertrauen. Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit, Göttingen 2020, Vandenhoek & Ruprecht

Kurzüberblick:

  • Autor: Reinhard Buthmann
  • Titel: „Versagtes Vertrauen. Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit“
  • Genre: Sachbuch / Zeitgeschichte
  • Erscheinungsort und -jahr: Göttingen 2020
  • Verlag: Vandenhoek & Ruprecht
  • Umfang: 1179 Seiten mit 44 Abbildungen (sw)
  • ISBN: 978-3-647-31724-3
  • Preis: 140 Euro (E-Buch) bzw. 175 Euro (Papier-Version)
  • Eine Leseprobe gibt es hier.

Autor der Rezension: Gerhard Barkleit

Zum Weiterlesen:

Barkleit: DDR wurde vom Mittelmaß regiert

Werner Hartmann – vom Pionier zum Paria

Der Absturz der DDR-Flugzeugindustrie

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt