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„Der neue Mensch“ in sowjetischen Filmen

Der Russe muss erst zum "Beherrscher des Alltags", zum neuen Menschen in einer neuen Zeit werden, sagt uns dieser expressiv in Szene gesetzete Puppentrickfilm von 1932. Szenenfoto: Absolut Medien

Der Russe muss erst zum „Beherrscher des Alltags“, zum neuen Menschen in einer neuen Zeit werden, sagt uns dieser expressiv in Szene gesetzete Puppentrickfilm von 1932. Szenenfoto: Absolut Medien

Doppel-DVD zeigt die Ikonografie der Modernität in Spiel-, Dok- und Trickfilmen der frühen Stalin-Ära

Ein Mann zieht aus einer Bruchbude in ein neues Hochhaus. Anfangs fühlt er sich darin gar nicht wohl: Er kann nicht einschlafen. Bis er erkennt, dass es ein Fehler war, den alten Krempel aus der alten Wohnung mitzunehmen – der hindert ihn daran, im neuen Heim auch innerlich anzukommen. „Man muss in einem neuen Haus zu leben wissen“, schreibt er am Schluss des Puppentrickfilms „Beherrscher des Alltags“. Dass dies als Metapher für die Metamorphose des Russen zum neuen Menschen, des Sowjetbürgers gemeint ist, wird spätestens klar, wenn man die Entstehungszeit kennt: Gedreht wurde dieser teils surrealistisch anmutende Trickfilm in der stalinistischen Sowjetunion des Jahres 1932. Zu finden ist er in der Edition „Der neue Mensch“. Die versammelt insgesamt acht Filme der frühen Sowjetunion zwischen 1924 1932 auf zwei DVDs, die inzwischen fürs Heimkino erschienen sind.

Auszug aus: Oblomok imperii (VT: Der Mann, der das Gedächtnis verlor) von 1929. Szenenfoto: Absolut Medien

Auszug aus: Oblomok imperii (VT: Der Mann, der das Gedächtnis verlor) von 1929. Szenenfoto: Absolut Medien

Spiegel einer Zeit voller Widersprüche

Die Schwarzweiß-Streifen spiegeln eine Zeit voller Widersprüche: Aufbruch und Hunger, den stilisierten Kampf des „Neuen“ gegen „das Alte“, Gemeinschaftssinn und die Zerschmetterung alter Moralvorstellungen, Propaganda-Kitsch und expressionistische Perlen, die das wilde Hohelied der Modernität singen.

Werbevideo (Suhrkamp):

Bolschewisten wollten auch den Menschen moderner machen

Und Modernität meint hier nicht nur die von Lenin & Co. gepriesene „Elektrifizierung des ganzen Landes“, die Mechanisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft oder den Maschinentakt der Fabriken. Modernisieren sollte sich auch der Mensch.

„Zentrales Ideologem der frühen Sowjetunion“

„Die Schaffung, Formung und Disziplinierung des Neuen Menschen entwickelte sich zu einem der zentralen Ideologeme der frühen Sowjetunion“, heißt es im digitalen Begleitheft zur Doppel-DVD. „Lenin und andere führende Revolutionäre wollten den Schmutz der alten Welt beseitigen. Sie erkannten, nutzten und verstärkten die epochale Aufbruchsstimmung, die Experimentierfreude und das Allmachtsgefühl, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Teilen der russischen Bevölkerung vorherrschten.“

Auch ein neues Frauenbild zeichnen die frühen sowjetischen Filme: Die Frau, die sich vom Patriarchat und alter Sexualmoral befreit. Szenenfoto: Absolut Medien

Auch ein neues Frauenbild zeichnen die frühen sowjetischen Filme: Die Frau, die sich vom Patriarchat und alter Sexualmoral befreit. Szenenfoto: Absolut Medien

Zwischen Euphorie und Terror

Und dieses euphorische Gefühl – zumindest der sowjetischen Kader und der Intelligenzia – spiegelt sich eben auch im Konvolut „Der Neue Mensch.“ Ansteckend konnte es aber nur sein, weil es eben mehr war als verbohrte bolschewistische Ideologie, sondern vielen Menschen echte Modernität und Verbesserungen brachte: Die Frauen beispielsweise begannen im nachzaristischen Russland, alte Moralfesseln und die Vorherrschaft des Mannes abzuschütteln und eigene Lebensentwürfe zu entwickeln – wie etwa in „Bett und Sofa“ 1927 thematisiert. Andere Filme wie eine „Kino-Prawda“ von 1924 zeigen gelegentlich auch kritische Facetten des sowjetischen Alltags: bettelnde Greise, rauchende Kinder auf den Straßen. Selbst Bessergestellte können allenfalls unter einem Samowar „duschen“. Indes: Die tiefe Armut der meisten „neuen Menschen“, den Hunger und den Terror unter Lenin, Trotzki und Stalin thematisieren diese staatlich kontrollierten Produktionen nicht wirklich.

Vor allem Kinder waren eine Zielgruppe für den Wunsch der Kommunisten, sich einen neuen Mensch zu erziehen. Hier ein Szenenfoto aus "Schisn w rukach" (Das Leben in der Hand) von 1931. Szenenfoto: Absolut Medien

Vor allem Kinder waren eine Zielgruppe für den Wunsch der Kommunisten, sich einen neuen Mensch zu erziehen. Hier ein Szenenfoto aus „Schisn w rukach“ (Das Leben in der Hand) von 1931. Szenenfoto: Absolut Medien

Fazit: Historisch und cineastisch faszinierend

Interessant anzusehen ist dieses Sammelsurium aber trotzdem: aus historischen Gründen, weil allzu viele Alltagsszenen aus dem Russland nach der bolschewistischen Revolution eben nicht mehr überliefert sind. Auch lohnt es sich, diese beiden DVDs unter ikonografisch-propagandistischen Gesichtspunkten anzusehen. Vor allem aber sind sie filmhistorisch faszinierend: Zu erkennen ist der Aufbruch zu einer neuen cineastischen Bildsprache mit wilden Schnitten, expressiver Mimik und Ausleuchtung und vielen anderen Stilmitteln.

DVD-Hülle von "Der neue Mensch". Abb.: Absolut Medien

DVD-Hülle von „Der neue Mensch“. Abb.: Absolut Medien

Kurzübersicht

Titel: „Der neue Mensch“

Genre: Sammlung früher sowjetischer Dok-, Spiel- und Trickfilme

Produktionsort und -jahr: Sowjetunion 1924-1932

Musik (Nachvertonung): Richard Siedhoff

Deutsche Veröffentlichung: Absolut Medien 2019

Digitales Begleitheft: hier

Preis: 15 Euro

Laufzeit: insgesamt 420 Minuten

ISBN/EAN: 978-3-8488-8032-4

Die Filme im Überblick:

DVD 1

  • Kino-Prawda Nr. 18  (Film-Prawda Nr. 18), 1924, 13:50 min
  • Tretja meschtschanskaja (VT: Bett und Sofa),  1927, 91 min
  • Samojedskij maltschik  (Der Samojedenjunge), 1928, 10 min
  • Grosny Wawila i tjotka Arina  (Der schreckliche Wawila und Tante Arina), 1928, 7.30 min
  • Oblomok imperii  (VT: Der Mann, der das Gedächtnis verlor), 1929, 74 min

DVD 2

  • Schisn w rukach  (Das Leben in der Hand), 1931, 100 min
  • Putjowka w schisn  (VT: Der Weg ins Leben), 1931, 108 min
  • Wlastelin byta  (Beherrscher des Alltags), 1932, 15 min.

Autor der Rezension: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt