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Kinder entwickeln binnen 30 Minuten neue Sprache

Im Experiment verwendeten Kinder mit ihrem jeweiligen Partner oder ihrer jeweiligen Partnerin die gleichen Gesten, um Objekte zu beschreiben - sie verständigten sich also auf eine neue, gemeinsame Sprache. Grafik: M. Bohn, MPI-Eva

Im Experiment verwendeten Kinder mit ihrem jeweiligen Partner die gleichen Gesten, um Objekte zu beschreiben – sie verständigten sich also auf eine neue, gemeinsame Sprache. Grafik: M. Bohn, MPI-Eva

Leipziger Forscher stellen durch Experimente historische Entstehung der Sprachen nach

Leipzig, 3. Dezember 2019. Wenn Menschen aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen zusammenkommen, können sie sehr rasch eine gemeinsame Sprache entwickeln – wenn sie auf einen ähnlichen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Darauf deuten Experimente von Leipziger Wissenschaftlern hin. „Daran schließen sich neue spannende Fragen an“, schätzte Studien-Mitautor Dr. Manuel Bohn ein. „Es wäre sehr aufschlussreich zu sehen, wie sich die neu erfundenen Kommunikationssysteme im Laufe der Zeit und durch Weitergabe an neue ‚Generationen‘ verändern. Es gibt Hinweise, dass Sprache über die Zeit systematischer wird, es wäre sehr interessant, das zu überprüfen.“

Bei Skype-Konferenz von Vorschulkindern den Ton abgestellt

Beteiligt an den Experimenten waren Wissenschaftler vom „Leipziger Forschungszentrum für Frühkindliche Entwicklung“ (LFE) der Uni Leipzig und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (Eva). Sie brachten in einer Skype-Videokonferenz Vorschulkinder zusammen, die sich in unterschiedlichen Räumen befanden. Dann stellten sie den Ton ab. Den so ihrer Sprache beraubten Mädchen und Jungen gaben sie die Aufgabe, den anderen Kindern die Inhalte von Bildern zu erklären, die nur sie sehen konnten.

Eine Gabel war noch leicht zu erklären

Tatsächlich fanden die Kinder binnen einer halben Stunde gemeinsame Kommunikationswege – und Möglichkeiten, selbst abstrakte Sachverhalte mitzuteilen. Bei konkreten Dingen wie einem Hammer oder einer Gabel, fanden die Kinder schnell eine Lösung, indem sie die dazugehörige Handlung (zum Beispiel essen) in einer Geste nachahmten, berichten die Leipziger Experimentatoren. Dann aber wuchsen die Herausforderungen. Zum Beispiel bekamen die Kinder ein weißes Blatt Papier als zu kommunizierendes Bild.

Wie kommuniziert man Leere?

Experimentator Dr. Gregor Kachel beschreibt, wie zwei Kinder diese Aufgabe dennoch meisterten: „Die Senderin versuchte zunächst allerhand verschiedene Gesten. Ihre Partnerin gab ihr jedoch zu verstehen, dass sie nicht wusste, was gemeint war. Plötzlich zog unsere Senderin ihr farbiges T-Shirt zur Seite und zeigte auf einen weißen Punkt auf dem T-Shirt. Da hatten die beiden einen echten Durchbruch: „Natürlich! Weiß! Wie das weiße Papier!“ Als die Rollen getauscht wurden, hatte die Empfängerin zwar keinen weißen Fleck auf ihrem T-Shirt, allerdings wählte sie die gleiche Herangehensweise: Sie zog ihr T-Shirt zur Seite und zeigte darauf. Sofort wusste ihre Partnerin, was gemeint war. Die beiden hatten innerhalb von kürzester Zeit ein Zeichen für die Darstellung eines abstrakten Sachverhalts etabliert.“

Kinder entwickelten eine eigene Grammatik

Im weiteren Verlauf des Experiments entwickelten die Kinder sogar eine Art einfache Grammatik für ihre neue Zeichensprache, um die Kommunikation zwischen zwei Tieren mitzuteilen.

Gemeinsamer Erfahrungsschatz hilft

Die Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass sich die vielen Sprachen auf unserem Planeten von einfachen gegenständlichen Zeichensystemen hin zu immer komplexeren und abstrakten Systemen entwickelt haben: „Zunächst werden Personen, Handlungen oder Gegenstände durch Zeichen dargestellt, die den Dingen ähneln“, skizzieren die Studienautoren die Abfolge. „Voraussetzung hierfür ist ein gemeinsamer Erfahrungsschatz der Interaktionspartner. Dabei ahmen die Gesprächspartner auch einander nach, sodass sie die gleichen Zeichen für die gleichen Dinge verwenden. So gewinnen die Zeichen eine Bedeutung. Im Laufe der Zeit wird die Beziehungen zwischen den Zeichen und den Dingen immer abstrakter und die Bedeutung der einzelnen Zeichen spezieller. Grammatikalische Strukturen werden nach und nach eingeführt, wenn das Bedürfnis besteht komplexere Sachverhalte zwischen Dingen zu kommunizieren.“

Weltweit sind 2500 Sprachen vom Aussterben bedroht

Weltweit gibt es fast 6000 Sprachen weltweit. Viele Sprachen, die in früheren Jahrtausenden gesprochen wurden, sind bereits mit ihren Trägern untergegangen – etwa das Hethitische. Etwa 2500 der heutigen Sprachen gelten laut Unesco-Angaben als vom Aussterben bedroht.

Autor: hw

Quelle: Uni Leipzig, MPI-Eva, Wikipedia, Unesco

Wissenschaftliche Publikation:

Manuel Bohn, Gregor Kachel und Michael Tomasello: „Young children spontaneously recreate core properties of language in a new modality“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 2. Dezember 2019, Fundstelle: doi: 10.1073/pnas.1904871116

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt