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Menschen reparieren statt amputieren

Wird immer wieder gerufen, wenn's knifflig auf dem OP-Tisch wird: Unfallchirurg Dr. Christian Kleber vom Uniklinikum Dresden ist auf Polytraumata spezialisiert. Foto: Anja Schneider

Wird immer wieder gerufen, wenn’s knifflig auf dem OP-Tisch wird: Unfallchirurg Dr. Christian Kleber vom Uniklinikum Dresden ist auf Polytraumata spezialisiert. Foto: Anja Schneider

Dr. Kleber von der Uniklinik Dresden erzählt, welche Fortschritte die Unfallchirurgie gemacht hat – und was in der Notaufnahme selbst hartgesottenen Profis nahe geht

Dresden, 21. September 2018. Die Unfallchirurgie hat in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht, sagt Dr. Christian Kleber vom Uniklinikum: Wo die Ärzte früher amputieren mussten, können sie heute in vielen Fällen die Arme und Beine der Patienten retten – durch technologische Fortschritte, aber auch durch interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Medizinern.

Der tiefe Fall

Seit über 20 Jahren verputzt Peter Kladig* nun schon Fassaden. Da macht ihm kein Jungspund so schnell etwas vor. Aber an diesem Tag ist ihm schon schummrig zumute, als er das Gerüst an der Hausfront hochsteigt. War es das Frühstücks-Ei, das etwas seltsam geschmeckt hatte? Oder der alte Kühlschrank daheim, der ihn mit seiner Brummerei nachts nicht mehr richtig schlafen lässt? Hinterher spielten diese Fragen eh keine Rolle mehr: Kurz nur taumelt Kladig, als er oben auf dem Gerüst angelangt ist, fast die Dachrinne erreicht hat, und er fällt – tief, tief, tief… Das erste, was er hört, als er wieder zur Besinnung kommt, ist das Piepen der Überwachungsmaschine an seinem Krankenbett. Ist er fixiert, oder warum kann er kaum ein Glied bewegen? Die Schwester holt den Arzt und der beginnt ihm zu erklären, wie schwer er gefallen ist, dass er wiederbelebt werden musste…

„Amputation stand zur Debatte“

„Der Mann hatte neben weiteren Verletzungen eine offene Oberschenkelfraktur und es gab Komplikationen“, erinnert sich Oberarzt Christian Kleber vom Uniklinikum Dresden. „Die Wunde hatte sich infiziert, auch der Knochen.“ So sehr, dass der Unfallchirurg acht Zentimeter rausschneiden musste. „Eine Amputation stand zur Debatte.“

Knochen wie Kaugummi langziehen

Durch Dutzende OPs und ein kompliziertes Rekonstruktionsverfahren konnten Kleber und sein Team das Bein dann doch retten: Zunächst setzten sie einen Platzhalter aus einem speziellen antiobiotischen Zement dorthin, wo das Knochenstück fehlte. Als die Antibiotika die Bakterien abgetötet hatten, begannen die Mediziner den sogenannten „Segmenttransport“, um neuen Knochen zu erzeugen. Dabei brechen sie den Knochen an einer Stelle, ziehen den Spalt ein klein wenig auseinander und fixieren die Segmente mit Spann-Nägeln oder besonderen Ringen. Dazwischen beginnt sich neue Knochensubstanz zu bilden. Bevor die aber hart wird, ziehen die Chirurgen die Segmente ein weiteres Stück auseinander – und so fort, bis die gewünschte Länge erreicht ist.

„Das kann man sich wie einen Kaugummi vorstellen, den man immer weiter auseinanderzieht und der schließlich aushärtet“, erklärt Dr. Kleber. Pro Tag gewinnt man so etwa einen Millimeter. „Da darf man nicht zu schnell zu schnell vorgehehen“, betont der Unfallchirurg. „Dafür braucht man viel Geduld, Spezialwissen und Erfahrung.“ Der Mann behielt sein Bein und kann seitdem wieder laufen.

Leben retten reizte dann doch mehr als die Elektrotechnik

Auf solche Weise Menschen helfen zu können, war für Kleber vor Jahren ein Motiv gewesen, seinen ursprünglichen Berufswunsch fallen zu lassen und Arzt zu werden. „Ich wollte eigentlich Elektrotechnik in Ilmenau studieren“, sinniert der heute 40-Jährige mit einem feinen Lächeln um die Mundwinkel. „Aber ich habe dann erst mal Zivildienst beim DRK Bayern gemacht und da gleich die Ausbildung zum Rettungsassistent drangehängt.“ Deutlich erinnert er sich an diesen einen Einsatz, bei dem ein Notarzt per Hubschrauber einschwebte und einen Schwerverletzten ins Leben zurückholte. „Das hat mich beeindruckt“, sagt er. „Da wurde mir klar: Das will ich auch machen, ich will Unfallchirurg werden.“

Erst nach Viertelstunde hielt das erste Auto

Seit dem Medizinstudium in Regensburg und der ersten Zeit als Facharzt hat Kleber inzwischen viele schwer verletzte Unfallopfer wieder zusammengeflickt – erst in der Charité in Berlin und seit 2015 am Uniklinikum Dresden. Spezialisiert hat er sich auf komplexe Verletzungen und Polytraumata – also Patienten mit gleich mehreren schweren Verletzungen. Gut erinnert er sich zum Beispiel noch an einen Motorradfahrer, der auf einer nächtlichen Landstraße gegen eine Wildsau prallte. „Eine Viertelstunde hat es gedauert, bis der erste Autofahrer anhielt und Hilfe rief“, erinnert sich Kleber. Um den Arm mit dem offenen Bruch zu retten, verwendete er damals die Masquelet-Technik. Dabei setzen die Chirurgen erst einen Zement-Platzhalter an die fehlende Stelle, um den herum sich eine Membran bildet. Hat sich dieses Segment verfestigt, wird der Platzhalter-Zement wieder herausgebohrt. „Heute klettert der Mann wieder“, erzählt der Arzt.

Er betont aber auch: „Das wäre vor zehn, 20 Jahren noch nicht möglich gewesen. Da hätte man wahrscheinlich amputieren müssen oder den Arm verkürzen – beides eine Katastrophe fürs Leben für den Patienten.“ Gerade die Unfallchirurgie habe in jüngerer Vergangenheit enorme Fortschritte gemacht. Dazu zählen eben die Masquelet-, die Segment- und andere Knochen-Rekonstruktionstechniken, aber auch materialtechnologische Fortschritte. Antibiotisch behandelte Nägel und Zemente mindern heute die Infektionsrisiken, es gibt individuelle vorgeformte Implantate, die die Chirurgen durch kleinste Schnitte in den Patientenkörper einschieben können, und vieles mehr.

Ersatzteillager für den Menschen

Weitere Fortschritte dämmern bereits am medizinischen Horizont herauf: „Durch das Tissue Engineering wird es möglich, zerstörtes Gewebe extern nachzuzüchten“, sagt der Oberarzt. „Im Labor funktioniert das mit Knorpel schon ganz gut. Aber wenn wir erst einmal fähig sind, komplexe Organe nachzuzüchten, kann das eine medizinische Revolution auslösen. Das wird so sein, als ob wir ein Ersatzteillager für den Menschen hätten.“

Was sich jenseits dieser technologischen Trends bereits verändert hat: Die Arbeit der Unfall-Chirurgen ist interdisziplinärer geworden: „Wir haben jetzt ein viel tieferes Verständnis für die Muskeln und Weichgewebe , vor allem durch die engere Kooperation mit der plastischen Chirurgie“, sagt der Oberarzt. Er verweist auf eine Patientin mit drastischen Verletzungen, für die dieses fachübergreifende Know-how besonders wichtig wurde: „Ein 40-Tonner hatte eine Radfahrerin überrollt und der Frau dabei nicht nur viele Knochen gebrochen, sondern auch die ganze Haut am Gesäß abgerissen“, erzählt er. Durch die schweren Beckenbrüche und Organverletzungen war es unklar, ob sie je Kinder bekommen oder wieder selbst auf die Toilette würde gehen können. Auch Psychologen habe er hinzuziehen müssen.

„Früher wurde das als Schwäche ausgelegt“

„Durch mehrere plastisch-ästhetische Operationen zusammen mit den plastischen Chirurgen haben wir dann doch etwas für sie tun können. Aber wir sind lange, lange Wege zusammen gegangen. Sie war über fünf Jahre bei mir in der Sprechstunde.“

Solche Geschichten gehen auch an einem erfahrenen Oberarzt nicht spurlos vorbei, erzählt Kleber. „Früher wurde das als Schwäche ausgelegt, wenn man so was an sich rankommen ließ.“ Heute spreche man auch im Team darüber, wenn einem ein Fall sehr nahe gehe. Natürlich sei es wichtig, eine professionelle Distanz zum alltäglichen Schmerz, Leid und auch Tod in der Notaufnahme zu behalten – andernfalls könne man kaum Unfallchirurg bleiben. „Aber manches nimmt einen dann eben doch emotional stärker mit“, gesteht er. „Wie erklären Sie zum Beispiel Kindern, dass ihre Mutter bald sterben wird, weil sie bei Radeln überfahren worden ist? Leicht ist das nicht, das kann ich Ihnen versichern.“

Autor: Heiko Weckbrodt

* Name geändert, Fall verfremdet und komprimiert

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt