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„Geniale Dilletanten“: Der Normbruch von unten

AG Geige, L'autre Allemagne hors les murs, La Villette, 1990 Paris. Foto: Dieter Wuschanski, Archiv Frank Bretschneider AG Geige, L'autre Allemagne hors les murs, La Villette, 1990 Paris. Foto: Dieter Wuschanski, Archiv Frank Bretschneider

AG Geige, L’autre Allemagne hors les murs, La Villette, 1990
Paris. Foto: Dieter Wuschanski, Archiv Frank Bretschneider

Sonderschau im Albertinum beleuchtet die Subkultur der 80er in Ost und West

Dresden. „Ich Scheusal, ich!“ Wer zu DDR-Zeiten öfter das „Parocktikum“ auf dem Jugendsender DT64 verfolgt hat, wird sich an diesen Ausruf noch erinnern: Eine seltsame Band aus Karl-Marx-Stadt mit dem irrenführenden Namen „AG Geige“ führte dort dadaistisch anmutende Musik auf, begleitet von abenteuerlicher Instrumentalisierung und monoton-elektrisierendem Sprechgesang. Heute zählen das Goetheinstitut und die Staatlichen Kunstsammlungen diese und andere Indie-Künstler zu den „Genialen Dilletanten“ (sic) und hat ihnen eine Ausstellung im Albertinum Dresden gewidmet.

Werbevideo zur Ausstellung (SKD):
 

Von A.R.Penck zur Zwitschermaschine

Dort zu sehen, zu hören und wiederzuentdecken sind zahlreiche Taktgeber in der „Subkultur der 1980er Jahre in West- und Ostdeutschland“. Dazu zählen heute noch bekannte Musiker, Fotografen und Maler wie A.R. Penck“ und Blixa Bargeld, aber auch heute fast vergessene Bands mit illustren Namen wie „Die Gehirne“, „Die Zwitschermaschine“ oder „Die Strafe“. Gerade in der Jugend- und Kunstszene der DDR gehörte „Grenzüberschreitung von der bildenden Kunst zur Klangerzeugung, Text, Super—Film, Performance und Theater seit den 1870ern zur Strategie der unangepassten Künstler, die gegen die Reglementierungen seines des SED-Staats und des Künstlerverbandes aufbegehrten“, heißt es im Begleittext zur Sonderausstellung. Viele der genannten Bands „praktizierten den radikalen Normbruch in einem Klangspektrum zwischen Free Jazz, Anarcho Jazz, Free Style, Noise, Punk und NDW-Elektro“.

A. R. Penck beim Improvisieren, um 1979 Atelier Volker Tenner, Dresden-Kleinzschachwitz, Meußlitzer Str. Foto: Volker Tenner

A. R. Penck beim Improvisieren, um 1979
Atelier Volker Tenner, Dresden-Kleinzschachwitz, Meußlitzer Str. Foto: Volker Tenner

Verschanzt hinter Kostümen

Ebenso, wenn auch in einem kleineren Szene-Ausschnitt, porträtiert die Schau auch das Indie-Geschehen auf der anderen Seite der Mauer, beispielsweise im legendären Punk-Club „SO 36“ in Kreuzberg.

Neben vielen Parallelen fallen im direkten Vergleich der Auftrittsfotos und –Filmausschnitte auch die Unterschiede zwischen Ost und West aus: Auf der einen Seite Selbstinszenierung wahlweise in Punk-Kluft oder im schwarzen Existenzialisten-Pullover, auf der anderen Seite die Zonis, die sich auf der Bühne oft ganz und gar hinter Kostümen oder ausdruckslosen Gesichtern verschanzten. In einem Interview mit den Protagonisten der „AG Geige“ erklären diese, dies sei eine ganz bewusste Entscheidung gewesen: Man habe die eigene Person zurücknehmen und das „erzeugte Kunstprodukt“ in den Vordergrund stellen wollen.

FM Einheit, Einstürzende Neubauten, Zeche Bochum 1984, Foto: Richard Gleim

FM Einheit, Einstürzende Neubauten, Zeche Bochum 1984, Foto: Richard Gleim

Fazit: Sehens – und hörenswert

Über Nostalgie geht die sehr sehens- und hörenswerte Sonderausstellung mit ihren zahlreichen Text-, Ton- , Bild- und Filmdokumenten sowie selbstgebauten Musikinstrumenten als Exponaten deutlich hinaus. Sie verknüpft vielmehr aus dem Abstand von drei Jahrzehnten das gesellschaftlicher Klima der 1980er mit einem Aufbruch basisnaher Musiker, Maler und Performer, dem der offizielle Kunstbetrieb in Ost wie West zum Halse heraushing und die nicht lange warteten, bis sie etwa ein Musikstudium absolviert hatten, um drauflos zu spielen – Dilettanten eben, denen ein My Genialität wirklich nicht abzusprechen ist.

Autor: Heiko Weckbrodt

Punk auf der Straße, Prenzlauer Berg, Ost-Berlin, 1982. Foto: Ilse Ruppert

Punk auf der Straße, Prenzlauer Berg, Ost-Berlin, 1982. Foto: Ilse Ruppert

Ausstellung:

„Geniale Dilletanten – Subkultur der 1980er Jahre in West- und Ostdeutschland“

Wo?

Albertinum Dresden (Eingang Brühlsche Terrasse und am Georg-Treu-Platz)

Öffnungszeiten

bis zum 19. November 2017 jeweils Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr

Eintrittspreise:

Erwachsene 10 Euro, ermäßigt 7 Euro

Mehr Infos im Netz:

Hier

Anfahrt

Am besten mit der Straßenbahn 1, 2, 3, 4, oder 7 bis zum Pirnischen Platz, mit dem Auto ist oft lange Parakplatzsuche vor dem Polizeipräsidium oder dem Rathaus angesagt:

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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