Die Manufaktur von Kleist hält in der Lausitz die Leinenfahne hoch
Neukirch, 29. August 2017. 1989 bis 1991 war eine Endzeit für viele Textilbetriebe in der Lausitz, im Vogtland und im Eichsfeld: Für die einst so riesige DDR-Bekleidungsindustrie fielen über Nacht die Devisen-Aufträge der westdeutschen Versandhäuser weg. Asiatische Lohnarbeiter waren für den (west-)deutschen Handel plötzlich billiger als die ostdeutschen Näher. Und weil alle für ihr Westgeld nur noch Westklamotten haben wollten, brachen gleichzeitig die Binnennachfrage und die Bestellungen aus dem Ostblock ein. Die Folge: Die Spinnereien, Webereien und Nähereien der DDR fielen wie Kartenhäuser. Rund 300 000 Menschen verloren binnen drei Jahren ihre Jobs. Doch nicht alle gingen unter: Einige spezialisierte textile Wertschöpfungsketten überlebten, wie das Beispiel Neukirch in der Lausitz zeigt.
Knautsch-Look kam wieder in Mode
Dort veredeln die Leinenmanufaktur von Kleist und die Weberei Hoffmann bis heute einen Stoff, der seit dem Siegeszug der Kunstfaser bereits ausgestorben schien: Leinen. Seit urbane Hipster den alten Knautsch-Look wiederentdeckt und ökologisch bewusste Konsumenten den Plastikeinkaufsbeutel verbannt haben, erlebt dieses naturnahe Material eine kleine Renaissance.
„Leinen ist nachhaltiger“
„Nicht alle mögen Kunstfasern, außerdem ist Leinen nachhaltiger“, erklärt sich Ulrich Mühlisch diese Wiedergeburt einer alten Faser. Der Wirtschaftsingenieur leitet die Leinenmanufaktur in Neukirch zusammen mit der Textildesignerin Ilka von Kleist, die bei den Besten in Sachsen, Großbritannien, Island und der Schweiz gelernt hat. Wie zum Beweis für den Nachhaltigkeitsgedanken hält Mühlisch eine Leinentasche hoch: stabil, schlicht, irgendwie schön. Anders als die allgegenwärtigen Plastebeutel macht sie nicht den Eindruck, als ob sie in den nächsten Jahren kaputt gehen will. Die Manufakturchefin persönlich hat die limitierte Taschen-Serie designt.
Kooperation mit Weberei nebenan
„Ilka ist der kreative Kopf hier im Team“, erzählt Ulrich Mühlisch, der sich um das Kaufmännische und die Hauswäscherei im Familienunternehmen kümmert. „Sie experimentiert viel mit verschiedenen Stoffen und Formen. Und in jede neue Serie fließen die Rückmeldungen unser Kunden ein, bis wir am Ende ein richtig gut durchdachtes Produkt in einem schönen Design haben.“ 90 Prozent der Leinenstoffe bezieht die Manufaktur von der benachbarten Leinenweberei Hoffmann. Auf chemisch vorbehandelte Leinenstoffe verzichtet das fünfköpfige Manufakturteam lieber.
Manufaktur will eCommerce ausbauen
Und dieses Konzept zündet nicht nur bei Senioren, die noch mit Leinen groß geworden sind, sondern auch bei jüngeren Kunden aus dem In- und Ausland. Die begeistern sich zunehmend für Taschen, Accessoires, Schals, Vorhänge und maßgeschneiderte Hemden aus der Lausitz. „Im Direktverkauf sind viele unserer Kunden aus der Lausitz und aus dem Dresdner Raum“, sagt der Manufaktur-Co-Chef. „Zu uns kommen auch viele Touristen ganz gezielt.“ Und die elektronischen Bestellungen per E-Mail trudeln aus ganz Deutschland ein, aus Österreich und Belgien. Deshalb feilt die Manufaktur nun an einem richtigen Online-Shop: „Wir haben hier offensichtlich die richtige Nische besetzt.“
Auch Regierung aufmerksam geworden
Das kleine Textilwunder aus Neukirch ist auch der Staatsregierung in Dresden aufgefallen: „Das Unternehmen besticht in einer strukturschwachen Region durch die erfolgreiche Verbindung von traditionellem Textil-Handwerk mit modernen Designs und einem repräsentativen Online-Marketing“, schätzt das sächsische Wirtschaftsministerium ein.
In der fünften Generation Weber
Die Verbindung von handwerklichen Wurzeln und digitaler Moderne durchzieht das gesamte Unternehmen: Auf der einen Seite sind die Designs vieler Leinenprodukte sichtlich auf den ökologisch-urbanen Geschmack der Generation Y gemünzt, präsentiert sich die Manufaktur im Internet als Ideenschmiede und nach innen als Familienunternehmen, in dem sich jede Mitarbeiterin wohl fühlen soll. Andererseits sind auch die Wurzeln im Lausitzer Handwerk überall präsent: Im Keller und in der Schauwerkstatt im Halbparterre präsentiert Senior-Weber Hans-Henning von Kleist gerne den Besucher die alte Textiltechnik, die er noch vom Web-Schiffchen auf gelernt hat: Heißmangeln und mechanische Waschmaschinen, manuelle Webstühle und Spinnräder. „Ich bin in der fünften Generation Weber“, sagt er. „Ich bin sehr glücklich, dass die Kinder unsere Traditionen weiterführen.“
Autor: Heiko Weckbrodt
Fakten & Zahlen:
- Name: Leinenmanufaktur von Kleist GbR
- Adresse: Zittauer Straße 15, 01904 Neukirch / Lausitz
- Umsatz: rund 140.000 Euro jährlich
- Belegschaft: Zwei Chefs und drei Mitarbeiterinnen
- Produkte: Maßhemden, Taschen, Tischdecken, Vorhänge, Bettwäsche u. .a. aus Leinen und besser Halbleinen
- Mehr Infos im Netz: leinenmanufaktur-vonkleist.de
Chronik:
- 1886 kaufte der gemeinsame Ururgroßvater der heutigen Inhaber, Carl August Eduard Augst, ein Wohnhaus an der Zittauer Straße in Neukirch in der Lausitz und richtete dort eine Leinenmanufaktur und eine Weberei ein
- 1911: Erweiterung der Weberei
- 1960er Jahre: Unternehmen spezialisiert sich auf Berufsbekleidung (Schlosseranzüge etc.)
- 1972: Verstaatlichung des Familienunternehmens
- 1990/91: Treuhand schließt die meisten Textilunternehmen der Lausitz, darunter auch die Weberei in Neukirch
- 1991 Hans-Henning von Kleist und Ina von Kleist gründen das Unternehmen als „Leinenmanufaktur von Kleist“ wieder – enge Verbindung mit der Leinen-Weberei der Familie Hoffmann nebenan.
- 1990er Jahre: Mit neuen Vermarktungsinstrumenten wie den Leinentagen Rammenau bauen die Maßschneider, Näher und Weber aus Neukirch wieder einen Kundenstamm für den fast vergessenen Textilstoff Leinen wieder auf.
- 2013: Ilka von Kleist und Ulrich Mühlisch übernehmen die Leinenmanufaktur von Kleist und gründen sie neu. Erweiterung des Portefeuilles durch Modeartikel und maßgeschneiderte Hemden aus Leinen.
- Ausblick: Geplant sind ein moderner Online-Shop, mehr Personal und eine Aufwertung der Schauwerkstatt
hw
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