Dresdner Jung-Informatiker wollen mit Musik-Software den bösen Tinnitus lindern
Dresden, 31. Mai 2017. Straßenkrach mag krank machen, auch der Lärm stampfender Maschinen. Besonders schlimm trifft es aber Menschen, die sich vor schmerzenden Tönen überhaupt nicht schützen können – weil der Krach im eigenen Kopf entsteht. Rund drei Millionen Deutsche leiden akut unter diesen „Tinnitus“ genannten Phantom-Geräuschen oder waren wenigstens schon einmal in ihrem Leben davon betroffen. Beim Einen ist es ein Klingeln, beim Anderen ein Brummen. Und für viele Patienten ist der Tinnitus mit starkem Stress und Schmerz verbunden.
Können Ton nicht abschalten, aber lindern
Solchen Menschen zu helfen, hat sich das Team „In Harmony“ um Martin Spindler von der TU Dresden verschrieben. Sie haben dafür eine Linderungs-Software entwickelt. „Wir können den Tinnitus nicht abschalten, aber die Belastung lindern“, betont Spindler. Bei ersten Tests mit der Dresdner Software hätten 96 Prozent der Patienten von einer Schmerzminderung berichtet.
Noch haben die Informatiker und Ingenieure Martin Spindler, Wolfram Eberius, Matthias Lippmann und Rico Skultety von der TU Dresden ihre Softwareschmiede „In Harmony“ nicht offiziell gegründet, dafür aber klare Marktziele vor Augen: „Wir wollen unsere Lösung zunächst Hörgeräte-Herstellern anbieten, als Zusatzfunktion für ihre Geräte“, berichtet Spindler. Angesichts von 3,5 Millionen Hörgeräte-Nutzern in Deutschland berge dieser Markt das Potenzial für Millionen-Umsätze.
Bis dahin brauchen die Gründer noch viel Geduld, Fleiß und Geld. Um in einer klinischen Studie den Nachweis erbringen zu können, dass die Harmonie-Software den Betroffenen hilft und keine üblen Nebenwirkungen hat, bemüht sich das Informatiker-Kollektiv derzeit um ein Gründerstipendium. Um diese Geldhähne zu öffnen, haben die „In Harmony“-Macher nun ihre Geschäftsidee bei einem sogenannten „Bootcamp“ in der alten Artillerie-Werkstatt im Dresdner Norden vorgestellt.
Dorthin hatte die universitäre Gründungsschmiede „dresden exists“ in dieser Woche neun Projektteams von der TU Dresden eingeladen, damit die ihre Unternehmens-Ideen erfahrenen Firmengründern, Fonds-Managern und anderen Multiplikatoren vorstellen konnten. „Anhand des Experten-Feedbacks können wir dann entscheiden, mit welchen Teams wir in konkretere Verhandlungen einsteigen“, erklärt „dresden exists“-Chef Frank Pankotsch.
Polylith: Internetschwarm entwickelt Computerprogramme
In den skizzierten Projekten stecken zweifellos interessante und teils auch innovative Ideen. „Polylith“ setzt zum Beispiel auf eine neue Form digitalkollektiver Computerprogramm-Entwicklung: Wenn Software-Schmieden mit Auftragsspitzen kämpfen, für die sie so schnell nicht genug Personal haben, können sie über das Dresdner Internetschwarm-Portal „Polylith“ viele Informatik-Studenten gegen klar definierte Honorare für Teilaufgaben in Großprojekten einspannen.
Die beteiligten Junginformatiker verdiene sich dadurch schon während des Studiums etwas dazu und die Projektfirmen müssen nicht bei jedem neuen Großauftrag sofort Head-Hunter in die Spur schicken, skizzierte Ilja Bauer vom „Polylith“-Team die Vorteile für beide Seiten. Zwar gebe es auch heute schon internetschwarm-basierte Software-Entwicklungen, bisher aber nicht die von den TU-Informatikern konzipierte automatische Qualitätssicherung dabei.
Nahy: Lebensmittel-Scanner für Muslime
Das international zusammengesetzte Team um Wissam Tawileh wiederum hat sich eines ganz praktischen Problems angenommen, das viele Flüchtlings-Familien in Deutschland haben: Die Asylbewerber verstehen kaum die Inhaltsangaben auf Lebensmitteln in hiesigen Supermärkten. Und das ist nicht nur für Muslime mit ihren besonderen Ernährungsregeln ein ernstes Problem. Das „Nahy“-Team will deshalb in diesem Monat einen neue App publizieren, die die Strichcodes auf Speisen und Getränken auswertet und die Zutaten in die jeweilige Landessprache des Nutzers übersetzt.
TU Dresden brütet jährlich über 20 Firmen aus
Viele der vorgestellten Projektideen richten sich allerdings weniger an Endkunden als vielmehr an Industriebetriebe oder Dienstleister. Und das ist auch ganz typisch für die Technische Universität Dresden. Die brütet jährlich Dutzende neue Firmen aus. Anders als in der deutschen App-Hauptstadt Berlin handelt es sich in Sachsen aber sehr oft um eher industrienahe Software.
„Pro Jahr kommen bei uns etwa 70 bis 80 Ideen auf den Tisch, von denen etwa 20 bis 30 dann auch tatsächlich zu Firmen-Gründungen führen“, berichtet dresden-exists-Chef Frank Pankotsch. „Besonders stark zugenommen haben in den vergangenen Jahren die Software-Projekte. Die machen jetzt etwa ein Drittel aller Ideen und aller Gründungen aus. Das sind größtenteils Lösungen für die Wirtschaft und nicht so sehr für den privaten Endverbraucher.“
Autor: Heiko Weckbrodt
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