TU-Forscher Klinghardt stellt nach zehnjähriger Puzzle-Arbeit „Offenbarungsqualität“ der Bibel in Frage
Dresden, 30. April 2015: In zehnjähriger Puzzle-Arbeit hat der Dresdner TU-Theologe Matthias Klinghardt das wohl älteste Evangelium rekonstruiert und nun veröffentlicht. Dabei handelt es sich um Texte des antiken Reeders Marcion, der an der Pontos-Region an der Südküste des Schwarzen Meeres lebte und im Jahr 144 unserer Zeitrechnung aus der christlichen Gemeinde ausgeschlossen und später von der Kirche als Ketzer verdammt wurde. Die bisherige Vorstellung von Theologie und Geschichtswissenschaften auf die historische Person Jesu Christi und die neueren Teile der Bibel muss nun möglicherweise deutlich umgeschrieben werden. Es stelle sich nun sogar die Frage, welche „Offenbarungsqualität“ das Neue Testament eigentlich habe, schätzte der TU-Forscher im Oiger-Gespräch ein.
Angeblicher „Ketzer“ Marcion besaß wohl älteste Schriften über Jesus
Bisher nämlich hatten sich Theologen meist der Leitthese der Kirche angeschlossen, besagter Marcion sei ein Ketzer gewesen, der das Lukas-Evangelium aus der Bibel verstümmelt und verfälscht habe. Tatsächlich aber war es eher umgekehrt, ist Prof. Klinghardt nun überzeugt: Der Reeder habe offensichtlich Überlieferungen über Jesus Christus und seine Jünger besessen, die viel älter und näher an den ursprünglichen Aufzeichnungen waren als alle Evangelium-Fassungen seiner Kritiker. Und beim direkten Vergleich zeigte sich: Offensichtlich wurde später eine ganze Menge hinzugedichtet.
Veränderungen an Bibel und Querverweise überprüft
Die Texte des Marcion sind allerdings nicht im Original bis heute überliefert. „Deshalb war die ganze Arbeit ja auch so aufwendig“, sagte Matthias Klinghardt. Vielmehr habe er aus unzähligen Berichten und Auseinandersetzungen Dritter mit Marcions Darstellungen dessen ursprüngliche Evangeliums-Fassung zusammenpuzzeln müssen. Diese Textvariante verglich der Dresdner Theologe dann mit Hunderten Evangeliums-Abschriften, die in spätereren Jahren entstanden, spürte Veränderungen nach, prüfte die Veränderungs-Richtungen und mutmaßlichen Referenzen und kam schließlich zum Schluss, dass Marcions Evangeliums-Texte wohl die ursprünglichsten und ältesten gewesen sein müssen, von denen man heute noch prinzipiell weiß.
Forschung muss sich vom bisherigen Jesus-Bild wohl verabschieden
Zugleich warnte der Forscher aber vor der Erwartung, nun könne man ganz genau sagen, wer Jesus von Nazareth nun eigentlich wirklich war, welche Ideen er ursprünglich propagierte und was Mönche und Kirchen-Funktionäre über die Jahrhunderte hinweg dazugedichtet haben. Leider sei eher das Gegenteil der Fall: „Ich weiß, das hört sich nicht so prickelnd an, aber vielmehr müssen wir wohl davon ausgehen, dass alles, was wir sicher und beweisbar über Jesus zu wissen glaubten, kaum noch zu halten ist“, sagte er.
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Wichtige Quellentheorie der Theologie in Frage gestellt
Denn bisher waren Theologen und Religionshistoriker davon ausgegangen, dass es zwei Primärquellen über Jesus und dessen Lehren gebe: das Matthäus-Evangelium und die sogenannte „Logien-Quelle“ – eine auch nicht im Original überlieferte, sondern rekonstruierte Spruch-Sammlung von Jesus Christus. Damit glaubte man die Gewähr zu haben, anhand von Übereinstimmungen in zwei Primärquellen gesicherte Erkenntnisse ableiten zu können. Doch Klinghardt ist überzeugt nun nachgewiesen zu haben, dass all diese vermeintlichen Quellen voneinander abhingen und – anders als Marcions Fassung– nicht mehr als Primärquellen in Frage kommen. Autor: Heiko Weckbrodt
-> Prof. Matthias Klinghardt: „Das älteste Evangelium und die Entstehung des kanonischen Evangelien“, A.-Francke-Verlag 2015, 198 Euro, ISBN 978-3772085499
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