Ur-Kilo der Franzosen magert anscheinend ab
Bad Honnef/Braunschweig/Paris, 5. Februar 2015: Seien es nun das „Pfund Gehacktes“ an der Fleischtheke oder die 17 Tonnen Metallrohlinge, die der Maschinenbauer im Stahlwerk ordert: All dieses Bestellungen vertrauen letztlich darauf, dass man sich auf das Kilogramm verlassen kann. Vom „Ur-Kilogramm“, das in einem Tresor nahe Paris verwahrt wird, leiten sich seit 1889 alle metrischen Masseangaben auf der Erde ab, seien es nun Gramm oder Tonne.
Doch es mehren sich die Zweifel, wie präzise der 39 Millimeter hohe Platin-Iridium-Zylinder mit 39 Millimetern Durchmesser, den die Franzosen da verschlossen haben, wirklich ist: Durch Vergleiche mit früher angefertigten Kopien in anderen Ländern nährt sich der Verdacht, dass das französische Ur-Kilo in den vergangenen 120 Jahren um etwa 60 Mikrogramm abgemagert ist – wie auch immer. Das klingt nach einer Petitesse, könnte weitergedacht jedoch zu enormen wirtschaftlichen Problemen führen. Auf die gigantischen Warenströme der Weltwirtschaft umgerechnet, entscheiden diese paar Mikrogramm mehr oder weniger nämlich über Milliarden-Umsätze. Daher wollen nun vor allem deutsche und US-amerikanische Metrik-Forscher auf zwei verschiedenen Wegen das „Kilogramm“ bis spätestens 2018 neu definieren.
Watt-Waage der Amerikaner wägt Masse mit Quantenenergie ab
Das eine Experiment dafür steht unter der Hoheit des „National Institute of Standards and Technology” (NIST) in der eigentlich so metrik-muffligen USA, die doch so gern auf Meilen, Pfunde und Gallonen schwört. Die US-Ingenieure in Gaithersburg wollen durch einen extrem aufwendigen Experimentalaufbau eine genaue Beziehung zwischen der kleinsten Energieeinheit, der Planck-Konstante „h“, und der Masse zu berechnen, um daraus eine auf Naturkonstanten basierende Kilogramm-Definition zu kreieren. Die sogenannte „Watt-Waage“ („Watt Balance“) der Amerikaner ist mehrere Etagen hoch und soll die Erdanziehungskraft, der ein Kilogramm unterworfen ist, durch ein genau definiertes elektromagnetisches Feld ausgleichen.
NIST-Video über die Watt-Waage der Amerikaner:
Braunschweiger zählen lieber Atome
Die „Physikalisch-Technische Bundesanstalt“ (PTB) in Braunschweig hingegen setzt auf das „Avogadro-Experiment“, benannt nach dem italienischen Physiker Amedeo Avogadro (1776 – 1856). Die Braunschweiger Ingenieure wollen anscheinend dem Klischee deutscher Gründlichkeit gerecht werden und das neue Kilogramm auszählen. Sie wollen dabei eine ideale Kugel aus hochreinem Silizium, wie es ähnlich auch in der Chip-Industrie verwendet werden, konstruieren und die darin enthaltenen Atome zählen. Das Kilogramm könnte man künftig zum Beispiel als die Anzahl der Atome eines bestimmten Elements wie Silizium oder Kohlenstoff definieren, die in einer idealen Kugel mit einem bestimmten Durchmesser enthalten sind.
Jede fünfte Waage weltweit kommt aus Deutschland
Welcher Standardisierungs-Ansatz letztlich das Rennen machen wird, ist noch ungewiss. Auf jeden Fall würden sowohl Wirtschaft wie auch Wissenschaft von einer neuen, präzisen Kilogramm-Definition profitieren – gerade auch für eine Exportnation wie Deutschland. „Allein in Deutschland gibt es schätzungsweise rund 200 Millionen Waagen: von Apothekerwaagen für wenige Milligramm über Waagen im Supermarkt bis zu Waagen für viele Tonnen“, schätzte die „Deutsche Physikalische Gesellschaft“ (DPG) aus Bad Honnef ein. Und die deutsche Waagen-Industrie habe weltweit einen Marktanteil von 21 Prozent.
Ohne Masse keine Relativitätstheorie
Und auch die Naturwissenschaftler sind sehr interessiert an einer genauen Kilogramm-Definition: „Die Masse hat fundamentale Bedeutung, nicht nur in Teilchenphysik und Relativitätstheorie, sondern ebenso im täglichen Leben und der Wirtschaft, betonte DPG-Präsident Prof. Edward G. Krubasik.
Kilogramm soll 2018 neu definiert sein
In spätesten drei Jahren müssen sich die Standardisierer jedenfalls geeinigt haben, denn laut Beschluss der internationalen „Generalkonferenz für Maß und Gewicht“ soll das neue Kilogramm spätestens 2018 neu definiert sein – ähnlich wie andere Einheiten wie Strom (Ampere) und Temperatur (Kelvin). Autor: Heiko Weckbrodt
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