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Der tägliche Schrecken des Maschinenkrieges

Gasmaske aus dem I. Weltkrieg. Foto: Sebastian Ahlers, DHM

Gasmaske aus dem I. Weltkrieg. Foto: Sebastian Ahlers, DHM

Sonderausstellung in Berlin widmet sich 100 Jahre nach dem Kriegsausbruch dem „I. Weltkrieg“

Berlin, 5. Juni 2014: „KSCH-Ksch-ksch… KSCH-Ksch-ksch…“ Ein auf- und abschwellendes Knarren trägt durch den schwach beleuchteten Zeughauskeller in der Mitte Berlins. Nervtötend. Beunruhigt wie der Atem eines lungenkranken Riesens. „Gas!“, rasselt die Ratsche. Reibt dieses Geräusch schon die Nerven des sicheren Besucher im Heute und Jetzt auf, um wieviel schlimmer muss es für die frierenden, hungrigen, müden Soldaten in den Schützengräben bei Ypern oder Verdun gewesen sein? Maske auf, sonst frisst sich das Gas durch deine Lungen, blendet dich, tötet dich… Es sind vor allem die Schrecken und der Alltag des industrialisierten Krieges, die die neue Sonderausstellung „Der Erste Weltkrieg“ 100 Jahre nach dem Kriegsausbruch im Deutschen Historischen Museum zeigen will.

Filme zeigen Grabenkoller

Wir sehen die plumpen Gasmasken, unter denen jeder Atemzug eine Qual gewesen sein muss, die für den Grabenkampf völlig ungeeigneten Käppis und Pickelhauben, mit denen junge Franzosen und Deutsche anfangs an die Front gejagt wurden, die Maschinengewehre, die mit ihren massentötenden Salven jede klassische Infanterie-Taktik ad absurdum führten. Historische Filmaufnahmen zeigen konvulsiv zuckende Verwundete mit Graben-Koller.

Video (Dt. Hist. Museum):

Flüchtlingsmädchen hockt hinterm Holzkarren

Heinrich Ehmsen: Kindertod (1917), repro: DHM

Heinrich Ehmsen: Kindertod (1917), repro: DHM

Die Ausstellung spiegelt aber nicht nur die Perspektive der Soldaten im Graben, sondern auch die Leiden der Zivilbevölkerung. Ein Gemälde beispielsweise mit einer stillenden Mutter, die ängstlich auf aufgebahrte Kinderleichen starrt. Besonders eindrucksvoll: das übermannshohe Schwarz-Weiß-Foto eines belgischen Flüchtlings-Mädchens, das sich in die letzten Habseligkeiten der Familie einmummelt. Davor ist – wohl um die Distanz einer bloßen Fotografie zu brechen – ein hölzerner Flüchtlingskarren aufgestellt.

Leidige Kriegsschuld-Frage kaum berührt

Das leidige Kriegsschuld-Glatteis, auf dem erst jüngst wieder britische Historiker und Politiker herumgetanzt hatten, vermeiden die Ausstellungs-Macher. Sie beschränken sich in Erklärvideos und Tafeln weitgehend darauf, die fallenden Domino-Steine aus bilateralen Bündnis-Fällen, Mobilmachungen, Ultimaten und Kriegserklärungen nachzuerzählen, die die Welt Stein für Stein in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ schlittern ließ.

Klassische Propaganda dominierte auf allen Seiten

Dafür ist aber ein besonders interessanter Themenschwerpunkt der Kriegspropaganda auf allen Seiten gewidmet, veranschaulicht an sonst nur selten rezipierten Stücken. Ganz anders als im II. Weltkrieg, als Goebbels Hetztiraden gegen das auf Glaubwürdigkeit bedachte Radio London prallten, dominierte 1914 bis 1918 nämlich fast überall noch klassische Propaganda, die heute nur noch lächerlich bis erschreckend wirkt.

Kaiser Wilhelm als Antichrist auf einem russischen Propaganda-Plakat aus dem Jahr 1915. Repro: DHM

Kaiser Wilhelm als Antichrist auf einem russischen Propaganda-Plakat aus dem Jahr 1915. Repro: DHM

Der entmenschlichte Feind

Zu sehen ist beispielsweise ein Bilderbuch, das seinerzeit die Kriegsbegeisterung deutscher Kinder wecken sollte: Da verteidigen der kleine Michel und sein österreichischer Freund ihren wohlgepflegten Garten gegen plünderte russische Nachbarskinder, die mit ihren mongoliden Gesichtszügen vor allem entmenschlicht wirken. Oder auf der anderen Seite englische Propaganda-Plakate, in denen der deutsche Pickelhauben-Träger als fratzenhafter, vergewaltigender Hunne dargestellt ist. Ein russisches Plakat wiederum zeigt Kaiser Wilhelm als den „Feind der menschlichen Rasse“: rot, diabolisch, mittelalterlich – der Antichrist in persona.

Fazit:

Zu kurz kommt in dieser Schau das Warum des „großen Krieges“, wie er von Zeitgenossen genannt wurde. „Im Zentrum steht die Gewalteskalation und Gewalterfahrung, die im Ersten Weltkrieg neue Dimensionen erreichten“, betonte Kuratorin Dr. Juliane Haubold-Stolle zur Ausstellungs-Eröffnung. Meine Begleiterin wiederum kritisierte die Schau als „nicht besonders innovativ“ und zu vollgestellt.

Andererseits aber haben die Organisatoren mit ihrem Fokus auf Kriegsalltag und -Schrecken und ihrer Orientierung auf ausgewählte Schauplätze und Themen meines Erachtens einen durchaus sinnvollen Ansatz gewählt, würde doch eine allumfassende Aufarbeitung des I. Weltkrieges jeden Ausstellungsrahmen sprengen. Zudem haben sie viele interessante und sonst nur selten gezeigte Originalstücke zusammengetragen (zum Beispiel Ernst Jüngers halbzerfetzter Stahlhelm), sich beim künstlerischen Blick auf den Krieg beispielsweise nicht auf den „Klassiker“ Otto Dix, sondern auf Gemälde anderer Künstler konzentriert. Unterm Strich ist ein Besuch dieser Sonderschau jedem historisch und politisch Interessierten nur zu empfehlen. Autor: Heiko Weckbrodt

Service:

Was? „Der Erste Weltkrieg 1914-1918“, Sonderausstellung
Wo? Deutsches Historisches Museum Berlin im Zeughaus, Unter den Linden 2
Wann? Bis 30. November täglich 10 bis 18 Uhr
Wieviel? Die Tageskarte kostet acht Euro (ermäßigt vier Euro, Kinder und jugendliche bis 18 Jahre gratis)
Wie komme ich hin? Mit der S-Bahn bis Hackscher Markt oder mit der U-Bahn bis Französische Straße (siehe BVB-Seite). Wer mit dem Auto kommt, sollte die Tiefgarage unterm Bebelplatz nutzen (Tageskarte elf Euro)

Zum Weiterlesen:

Britischer Propaganda-Film „Die Schlacht an der Somme“ auf DVD

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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