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Möbel-Zwinge Hellerau wird zur Biotechschmiede

Im Biorype-Labor in den ehemaligen Werkstätten Hellerau gilt das Reinraum-Regime. Foto: Heiko Weckbrodt

Im Biorype-Labor in den ehemaligen Werkstätten Hellerau gilt das Reinraum-Regime. Foto: Heiko Weckbrodt

Tech-Firmen im alten Riemerschmid-Bau im Dresdner Norden sorgen für über 400 Jobs

Dresden, 8. April 2014: Wer glaubt, Wirtschaftsförderung müsse immer vom Staat ausgehen, wird im Dresdner Norden eines Besseren belehrt: In der „Zwinge“, der ehemaligen Möbelmanufaktur der Deutschen Werkstätten Hellerau, ist in den vergangenen 14 Jahren in privater Regie ein Technologiepark entstanden. Wo einst Säge, Hobel und Drucklufthammer regierten, haben sich inzwischen zirka 50 Unternehmen mit insgesamt über 400 Mitarbeitern angesiedelt, darunter kleine Biotech- und Solarfirmen ebenso wie lokale Niederlassungen großer Elektronik-Konzerne. Während der Dresdner Industrienacht am 24. Juni 2014 können die Dresdner einiger dieser Labore und Entwicklungsstudios besuchen.

Wandel von Möbelmanufaktur zum privaten Technologiepark

„Das Ensemble hat eine faszinierende Entwicklung genommen, spannende Firmen haben sich hier etabliert und dies wollen wir den Dresdnern zur Industrienacht zeigen“, erklärt Wilhelm Zörgiebel, in Personalunion Chef der „Gebäudeensemble Deutsche Werkstätten Hellerau GmbH“, die die Immobilie betreibt, sowie einer Biotech-Firmengruppe, die teils in Hellerau, teils im Rossendorfer Forschungszentrum sitzt. „Die Unternehmen hier beschäftigen sich vorrangig mit neuen Technologien in der Mikroelektronik, Solartechnik und Windkraft und Biotechnologie. Am Standort haben wir zum Beispiel 60 bis 70 Leute, die sich mit der Gendiagnostik und Bioinformatik auseinandersetzen.“

Videoimpressionen (Heiko Weckbrodt):

Aus Werkbund- und Bauhaus-Ideen geboren

Bis zu den Hightech-Laboren und Reinräumen, die heute das Ensemble prägen, war es indes ein weiter und gewundener Weg: 1909/10 entstand am Moritzburger Weg in Hellerau das Fabrikationsgebäude für die bis dahin in Laubegast ansässigen Deutschen Werkstätten. Deren Gründer Karl Schmidt hatte seine Möbelmanufaktur der Handwerkskunst und dann zunehmend den Werkbund- und Bauhaus-Ideen verpflichtet. Anspruchsvolle Ästhetik nach dem Prinzip „Die Funktion bestimmt die Form“ sollten hier mit einer Produktionsweise verbunden werden, die wir heute ganzheitlich nennen: Arbeiten und Leben in einer natürlichen, nichtentfremdeten Umgebung. Und diesen Gedanken folgte auch der von Richard Riemerschmid entworfene Manufaktur-Neubau, der als Fokuspunkt einer Gartenstadt diente, mit der sich die Hellerauer heute um eine Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste bemühen.

Nach der Wende standen Deutsche Werkstätten kurz vor dem Aus

Wilhelm Zörgiebel. Foto: Heiko Weckbrodt

Wilhelm Zörgiebel. Foto: Heiko Weckbrodt

Nach dem Zusammenbruch der DDR indes standen ganz andere Probleme im Vordergrund: Als VEB hatten sich die Werkstätten zu sehr auf beliebige Massenmöbel konzentriert, nach der Wende waren über 30 Millionen D-Mark Altschulden zu begleichen. Zeitweise stand der reprivatisierte Betrieb vor dem Aus. Doch das neue Management aus dem Westenentsprach so gar nicht dem Raubritter-Image, den sich viele „Wessi-Helfer“ damals anderswo verdienten: Die ehemaligen Studien-Kommilitonen Wilhelm Zörgiebel, Wolfgang Thiele und Ulrich Kühnold taten sich mit Fritz Straub zusammen, übernahmen den traditionsreichen Betrieb und nach schmerzhaften Einschnitten gelang es ihnen schließlich, das Ruder herumreißen. Sie verkauften alle Immobilien, um Altschulden abzutragen, und teilten das Unternehmen 1997/98 auf: Der produzierende Teil unter Straub fokussierte sich auf Luxusmöblierung und zog auf die andere Straßenseite um, während die Immobiliengesellschaft die alte Manufaktur von der Treuhand zurückkaufte, ab 1999 denkmalgerecht sanierte und zum Technologiepark machte.

Neustart mit Biotech, Mikroelektronik, Windkraft und Solar

Mittlerweile sind dort 87 Prozent der 16 000 Quadratmeter vergeben. Unter den Mietern sind illustre internationale Namen wie der Chipwerkausrüster Tokyo Elektron, aber auch lokal gewachsene Firmen wie Boreas (Windkraft) oder Sunstrom (Solar). Auf Biotech haben sich Zörgiebels Firmen „Biotype“ (30 Mitarbeiter, 4 Mio. € Umsatz) und „Qualitype“ (30 Mitarbeiter, 2,5 Mio. € Umsatz) in der Zwinge spezialisiert, beide können in der Industrienacht besichtigt werden. Dabei steht „Biotype“ für molekulargenetische Testkits für die Verbrecherjagd sowie Diagnostikmittel für Leukämie, urologische und Hautkrankheiten, während „Qualitype“ Biotech-Software für Polizei-Labore und Kliniken entwickelt.

Ein weiteres Zörgiebel-Unternehmen sitzt im Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf: Die erst kürzlich übernommene „Rotop“ ging aus der Radiopharmazie-Forschung des einstigen DDR-Kernforschungszentrums hervor, beschäftigt 50 Mitarbeiter und macht mit seinen bildgebenden Radiopharmaka 10,8 Millionen Euro Umsatz.

Weitere Ansiedlungen in der Pipeline

In beiden Sparten sieht Zörgiebel auch noch Potenzial für seinen kleinen, aber feinen Technologiepark im Norden, unweit der großen Chipwerke von Globalfoundries, Infineon & Co.: Demnächst, so verrät er schon mal, wolle sich eventuell ein großes Biolabor in der Hellerauer Zwinge niederlassen, auch in Inkubator für Software-Firmen hat Interesse bekundet. „Da machen sich auch unsere Bemühungen um schnelle Internetverbindungen hier am Standort bemerkbar“, meint er. „Ohne die geht doch heute nichts mehr in der Softwarebranche.“ Autor: Heiko Weckbrodt

Chronik & Fakten:

Dr. Maja Böhme bereitet im Biotype-Labor Markeirungsstoffe vor, mit denen später Zellen eingefärbt werden, um sie zu mikroskopieren. Foto: Heiko Weckbrodt

Dr. Maja Böhme bereitet im Biotype-Labor Markeirungsstoffe vor, mit denen später Zellen eingefärbt werden, um sie zu mikroskopieren. Foto: Heiko Weckbrodt

1910: Die Deutschen Werkstätten beziehen das schraubzwingenförmige Manufakturgebäude in Hellerau, das nach Entwürfen von Richard Riemerschmid als ein Kernpunkt einer Gartenstadt errichtet wurde.

1946-1951: Die Träger-AG wird enteignet, das Unternehmen in einen VEB umgewandelt.

1970: Hellerau wird Stammbetrieb eines Möbelkombinats, baut zunehmend Billigmöbel.

1992/93: Reprivatisierung, Rückprofilierung auf hochwertige Möbel.

1997/98: Aufteilung des Unternehmens in die produzierende Deutsche Werkstätten Hellerau GmbH, die in einen Neubau auf der anderen Straßenseite zieht, und die Grundbesitz Hellerau GmbH, die die Zwinge vermarktet.

1999/2000: Letztere Gesellschaft saniert das alte Gebäude-Ensemble, es wird fortan als Technologiepark genutzt.

-> Heute umfasst dieser Technologiepark rund 16.000 qm Gewerbefläche mit derzeit rund 50 Unternehmen, vor allem aus den Sektoren Biotech, Mikroelektronik sowie Solar- und Windkrafttechnik, die insgesamt über 400 Mitarbeiter beschäftigen. Daneben wird das Ensemble oft für Kulturveranstaltungen genutzt.

-> Mehr Infos im Netz unter hellerau-gb.de, facebook.com/gebaeudeensemble.hellerau und dwh.de

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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