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Dresden 1989: Siliziumwerk wird zur Kraftprobe zwischen Bürger und Staat

Heute alltäglich, doch vor der Wende und doch geschehen: Anwohner und Aktivisten demonstrieren gegen ein geplantes Chemiewerk in Dresden-Gittersee. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Vor der Wende eigentlich in der DDR undenkbar und doch geschehen: Eine Demo ohne Staates Gnaden. Anwohner und Aktivisten protestieren Mitte 1989 gegen ein geplantes Chemiewerk in Dresden-Gittersee. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Im Sommer 1989 erreichte der Konflikt zwischen DDR-Staat und Bürgern in Dresden eine neue Qualität. Unter den Dresdnern regte sich der Widerstand gegen eine geplante „Zeitbombe“ vor ihrer Haustür: das Reinstsiliziumwerk (RSW) Gittersee – eine Großinvestition, die von der SED-Wirtschaftsführung für ihren forcierten Mikroelektronik-Kurs dringend benötigt, aber mit wenig Bedacht geplant wurde.

„Fuer den am 6.8.1989 durchgefuehrten Fuerbittgottesdienst in Gittersee wurden zur Verhinderung feindlich-negativer Handlungen umfangreiche volkspolizeiliche und tschekistische Masznahmen eingeleitet. Am Gottesdienst nahmen 400 Personen, 250-300 in der ueberfuellten Kirche und der Rest auf dem Friedhof teil. Die Predigt von Superintendent Wolfgang Scheibner war darauf angelegt, die Teilnehmer in theologisch verbraemter Form zu beeinflussen gegen den Bau des Reinstsiliziumwerkes aufzutreten. Eine Gruppe von 20 Personen setzte sich hinter dem Eingang zum Reinstsiliziumwerk auf den Fuszweg. Daraufhin wurde die Mobile Einsatzgruppe des VPKA zum Einsatz gebracht. Auf der anderen Straßenseite hatten sich 60 Teilnehmer des Gottesdienstes und Passanten angesammelt. Durch die DVP wurden 20 Personen zugefuehrt. Diese werden zur Zeit Befragungen unterzogen, in deren Ergebnis differenzierte strafrechtliche und ordnungsrechtliche Masznahmen eingeleitet werden“.

Mit dieser Eskalation, wie sie Dresdens Stasi-Bezirkschef Horst Böhm in einem Fernschreiben nach Berlin beschrieb, hatte das Politbüro wohl nicht gerechnet, als es im Mai 1987 beschloss, eine Silizium-Fabrik zu bauen. Dabei handelte es sich um eine Großinvestition, die archetypisch die Probleme der DDR-Wirtschaftspolitik in den 80er Jahren aufzeigt, die Spannungen zwischen Theorie und Praxis, zwischen zentralen Modernisierungsanstrengungen, Technikgläubigkeit sowie Vertrauen auf politischen Druck auf der einen Seite und stetig wachsenden Schwierigkeiten bei der Beherrschung der Hochtechnologien, gestiegenen Umweltbewusstsein der Bürger sowie mangelhafter Planung auf der anderen Seite. Im konkreten Beispiel führten diese Spannungen dazu, dass sich die ursprünglich veranschlagte Investsumme für das Staatsplanvorhaben RSW verdoppelte, die erhoffte Effizienz durch praktische Hindernisse und politische Vorgaben sank und der Terminplan nicht eingehalten werden konnte. Trotzdem verhinderte politische Prinzipienreiterei den Abbruch des Projektes.

Honecker versprach Sowjetunion bereits das Ende des Silizium-Engpasses

Die DDR-Chipindustrie gierte nach Reinstsilizium. Abb.: Jurii/Wikipedia

Die DDR-Chipindustrie gierte nach Reinstsilizium. Abb.: Jurii/Wikipedia

Ausgangsbasis für das Vorhaben war die forcierte Entwicklung der Mikroelektronik durch die SED, die besonders in der zweiten Hälfte der 80er Jahre erhebliche Investitionsmittel band. Eine Amortisierung der eingesetzten Gelder konnte nur erwartet werden, wenn die Chipherstellung eine gewisse Schwellengröße überschritt. Ein Engpass dafür war der Grundstoff der Mikroelektronikindustrie: Reinstsilizium. Dieses wurde bis dato auf der Grundlage eines Pilotprojektes im VEB Spurenmetalle Freiberg hergestellt. Während der größte westdeutsche Hersteller in Burghausen jährlich 4000 t produzierte, brachte es Freiberg auf nur 100 t im Jahr. Der benötigte Grundstoff Trichlorsilan (TCS) wurde vom Chemiewerk Nünchritz bei Riesa angeliefert.

Diese Menge reichte bei weitem nicht, um den Bedarf der DDR und des RGW zu decken. Zeitgleich mit dieser Erkenntnis wurde auch deutlich, dass sich die Uranvorräte der DDR fast erschöpft hatten. Eine Schließung des Schachtes „Willy Agatz“ der SDAG Wismut in Dresden-Gittersee war abzusehen. Um den dort beschäftigten Kumpel – getreu der staatlichen Politik, keine Arbeitslosigkeit zuzulassen – eine neue Beschäftigung zu verschaffen, musste ein neues Werk her. Dieser Betrieb sollte in der ersten Stufe 3600 t und in der zweiten Stufe, ab 1993, jährlich 7500 t Reinstsilizium herstellen – genug, um den Bedarf der DDR und großer Teile des RGW zu decken. SED-Chef Erich Honecker ging sogar soweit, dem sowjetischen Parteichef Michael Gorbatschow schon Lieferungen zuzusagen.

Aus dieser Not machte das Politbüro im Mai 1987 eine Tugend, und beschloss den Bau eines Reinstsiliziumwerkes (RSW). Zur Debatte standen drei Standorte:

Chemiewerk Nünchritz, Archivaufnahme von 1958. Abb.: Bundesarchiv/ Wikipedia

Chemiewerk Nünchritz, Archivaufnahme von 1958. Abb.: Bundesarchiv/ Wikipedia

1. Nünchritz: Durch einen Anbau an das dortige Chemiewerk hätte, wie in Westdeutschland üblich, ein Transport des gefährlichen Grundstoffes TCS über die Werksgrenzen hinaus vermieden werden können. Auch gab es qualifizierte Facharbeiter vor Ort.
2. Freiberg: Die dortige Produktion von Reinstsilizium hätte nur ausgebaut werden müssen,
3. Dresden-Gittersee: Dresden war ein Zentrum der Mikroelektronik, kilometerweite aufwendige Transporte des TCS wären allerdings unausweichlich. Dort wurden indes die Wismut-Arbeitskräfte frei und dies gab dann auch den Ausschlag für den Standort Gittersee.

Lokale Staatsorgane stellten sich wegen Sicherheitsbedenken quer

Bald taten sich jedoch Probleme auf. Als Anfang 1988 Stellungnahmen der örtlichen Behörden eingeholt wurden, trudelte ein negativer Bescheid nach dem anderen ein. Weder Kreishygieneinspektion, noch die Abteilung Umweltschutz im Dresdner Rathaus, Stadtplankommission oder Feuerwehr wollten das RSW im Süden Dresden, im Lufteinzugsgebiet der Großstadt, haben. Denn diesen Experten war durchaus bekannt, wie gefährlich der Grundstoff TCS ist:

TCS ist eine leicht entzündliche Substanz, die schon durch Funken aus elektrostatischer Aufladung zur Explosion kommen kann. Im Falle eines Freiwerdens reagiert TCS mit der Luft und bildet Salzsäure und Chlorgas.

Bei Havarie womöglich Tausende Tote zu erwarten

Der Transport sollte jedoch über die bekannten schlechten DDR-Straßen, mitten durch Wohngebiete erfolgen, in einer anderen Variante über den Rangier-Bahnhof Dresden-Friedrichstadt, in einer der am dichtesten besiedelten Gegenden in Dresden. Bei der Verbrennung eines einzigen Transportcontainers hätte sich im bebauten Gelände eine Chlorgaswolke von einem Kilometer Durchmesser gebildet. Außerdem, so ergab eine Analyse im Auftrag des MfS, befand sich über dem geplanten Standort des Werkes die Flugzeug-Warteschleife für den Flughafen Dresden-Klotzsche. Wäre einer der Flieger über dem RSW abgestürzt, wäre binnen kurzem eine riesige Chlorgaswolke ins Stadtzentrum geschwebt und hätte womöglich Tausende von Toten gefordert.

Das Projekt kam Mitarbeitern der Akademie der Wissenschaften (AdW) zu Ohren. Mit Eingaben erreichten sie, dass die Zentrale Inspektionen für Investitionen (ZSII) am 12. Juli 1988 eine Beratung im Chemiewerk Nünchritz ansetzte. Die ZSII bügelte die Bedenken jedoch ab. Zwar könne man auf den gefährlichen Straßentransport verzichten, die Technologie sei aber beherrschbar. Pikanterweise ereignete sich nur einen Tag später eine Havarie im Chemiewerk.

Trichlorsilan-Tankwaggons unterliegen strengen Sicherheitsauflagen. Abb.: Emes/ Wikipedia

Gezielte Indiskretionen führen zu Protestkaskade

Zwei Wochen später machte der Ingenieur L. den Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an der Berliner Humboldt-Uni, Dieter Klein, auf das Projekt aufmerksam. Ein Kollege von L. informierte im September den Pfarrer Wilfried Weißflog in Gittersee von dem Vorhaben. Klein konsultierte die Uni-Kriminalistik, einen Chemiewaffenexperten sowie SED-Bezirks-Chef Hans Modrow und fand die Gefahren durch das RSW bestätigt. Klein schrieb einen Brief an den Ministerrat, in dem er anregte, die Investition zu überprüfen. Weißflog wandte sich derweil mit Eingaben gegen das RSW an Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und den Staatsrat. Auch das MfS hielt wegen der Stimmung in der Bevölkerung eine Überprüfung des Beschlusses für erforderlich. Im Dezember setzte Ministerrats-Vize Günther Kleiber die Entscheidung über das RSW aus.

Die Information sickerte bis zur Kirche durch, auch durch gezielte Indiskretionen. Kirchgemeinden und der „Ökologische Arbeitskreis“ in Dresden riefen die Bürger auf, ein sozialistisches Druckmittel par exellence einzusetzen, die Eingabe. Anfang 1989 sah sich die Staatsmacht mit einer Flut von Eingaben gegen das RSW konfrontiert.

Trotzdem wurden in Berlin die Weichen für die Investition gestellt. In einer Stellungnahme von Elektronikminister Meier wird deutlich, welche Rolle das RSW in der SED-Wirtschaftsstrategie spielte. Die UdSSR habe der DDR vorgeschlagen, gemeinsam eine Fabrik für modernste Speicherchips zu bauen. Die SU sei aber „trotz anderslautender Behauptungen“ nicht in der Lage, den Siliziumbedarf dafür zu decken. Daher müsse sich die DDR auf den Bau eines eigenen Reinstsiliziumwerkes konzentrieren.

„Der Sinn der Sache war, die Eingabe abzuschmettern“

In Berlin konstituierte die ZSII in Reaktion auf die Eingaben Kleins und der AdW eine Expertengruppe. Wie der Professor jedoch bald erkennen musste, stand für die staatliche Expertengruppe das Ob eines Werkbaues in Gittersee überhaupt nicht zur Debatte, höchstens das Wie. Ein Experte der Humboldt-Uni und der Nünchritzer Ingenieur L. waren zwar eingeladen und als Konsultanten eingeteilt – „bloß es kam niemand zum Konsultieren“, so Klein. „Sinn der Sache war, die Sache aufzugreifen, aber die Eingabe, mit Modifikationen am Projekt, abzuschmettern“.

„Absturz käme Chemieangriff auf Dresden gleich“

Tatsächlich gab eine Expertise Anfang Februar die Zustimmung zum RSW. Der Transport von TCS sei gefahrlos möglich, hieß es. Daran änderte auch L. nichts, der zu Protokoll gab: Ein Terrorangriff auf oder ein Flugzeugabsturz über dem RSW „käme einem Chemiewaffenangriff auf Dresden gleich“. Allerdings erhöhte die Expertengruppe die Sicherheitsauflagen für das Werk drastisch. So sollte unter die Fabrik eine Betonwanne gegossen werden, damit keine Giftstoffe austreten können.

Hans Modrow war damals SED-Bezirkschef in Dresden. Abb.: Bundesarchiv/ Wikipedia

Hans Modrow war damals SED-Bezirkschef in Dresden. Abb.: Bundesarchiv/ Wikipedia

Damit waren die Würfel gefallen. Am selben Tag bestätigte der Ministerrat das Projekt. Am 7. Februar beschäftigte sich das Politbüro mit „politischen Problemen“ im Bezirk Dresden, darunter auch mit dem Reinstsiliziumwerk. Nachdem Modrow Monatsberichte nach Berlin gesandt hatte, in denen er die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die angespannte wirtschaftliche Lage und das Problem RSW ansprach, beschloss die Parteispitze, eine Arbeitsgruppe des Zentralkomitees nach Dresden zu schicken, um die Genossen „auf Linie“ zu bringen.

Modrow nahm vor SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag Stellung zum RSW. In seiner Disposition hieß es, dass „der ökonomische Effekt für den Standort nicht mehr gegeben“, die „politischen Auswirkungen“ in der Bevölkerung aber beträchtlich seien.

Minister wirft Dresdner Genossen „Versagen“ vor

Dies änderte jedoch nichts an der zentral getroffenen Entscheidung. In Dresden setzen nun hektische Aktivitäten ein. Die unter Beschuss geratenen sächsischen Genossen (So warf Kleiber in einer Politbüro-Sitzung am 28. Februar der politischen Führung in Dresden „Versagen“ vor) beschlossen einen Maßnahmeplan, um den Widerstand gegen das RSW zu brechen. Bernd Lange, Stadtbezirksbürgermeister von Dresden-Süd, erklärte das RSW zum Problem Nr. 1, das Sekretariat der SED-Stadtleitung (SL) gab als Marschrichtung „politische Massenarbeit“ an.

Bestellte Jubelartikel im SED-Bezirksblatt

Berghofer und andere Funktionäre führten „Aussprachen“ mit Pfarrer Weißflog, Superintendant Scheibner und weiteren Kirchenleuten. Nach Coschütz-Gittersee wurden Agitatoren entsandt, die drei Wochen lang die Bürger von der Unbedenklichkeit des RSW überzeugen sollten. Die SED ließ 6000 Flugblätter verteilen und RSW-freundliche Berichte in ihrem Bezirksblatt „Sächsischen Zeitung“ abdrucken. SED-Stadt- und Bezirksleitung (BL) erklären die Angelegenheit zur Top-Sache und beteiligten sich an einer Objekt-Führungsgruppe. Alle Eingaben wurden zentral erfasst und analysiert, um mit den Absendern Gespräche in ihren Arbeitsstellen zu führen. Berlin schickte Elektronik-Staatssekretär Karl Nendel, einen bekannten „Einpeitscher“, spezialisiert auf die generalstabsmäßige Leitung von Staatsplanvorhaben. Nendel erreichte mit Hinweis auf erhöhte Sicherheitsauflagen die Zustimmung fast aller Ämter zum RSW, die bisher negative Stellungnahmen abgegeben hatten: Hygieneinspektion, Umweltschutzinspektion, Territorialplanung.

„Bürger noch nie so mutig erlebt“

Trotzdem hielt der Widerstand der Dresdner gegen das RSW an. Die Einwohnerversammlungen waren fast immer überfüllt, den RSW-Befürwortern schlug massive Ablehnung entgegen. Spitzel des MfS saßen mit in den Reihen, „Rädelsführer“ konnten so von der Stasi zur weiteren „Bearbeitung“ identifiziert werden. Auf Vorschlag des Dresdner Parteichefs Werner Moke wurden die Versammlungen gleichzeitig abgehalten, damit RSW-Gegner nicht an mehreren Treffen teilnehmen konnten.

Manfred Richter leitete seinerzeit den RSW-Aufbaustab. Abb.: Siltronics

Manfred Richter leitete seinerzeit den RSW-Aufbaustab. Abb.: Siltronics

Dramatisch verlief eine Versammlung in der „Roten Rose“ an der Oskar-Seiffert-Straße. Da der Saal zu klein für die herbeigeströmten Menschen war, ließen sich Stadtbezirksbürgermeister Renne und RSW-Aufbauchef Manfred Richter (VEB Spurenmetalle Freiberg) darauf ein, das Treffen in die Kirche von Gittersee zu verlegen. Dort wurde dann scharf diskutiert, die Bürger machten ihrem Unmut nicht nur über das RSW, sondern auch über die Willkür der Behörden und die Versorgungssituation Luft. „Ich habe den DDR-Bürger noch nie so mutig, noch nie so ohne Rücksicht, dass ihm was an das Bein fahren könnte, erlebt“, erinnert sich Weißflog. Renne wie Richter standen dem Bürger-Zorn nahezu hilflos gegenüber. Für Renne hatte dies ein Nachspiel: Gegen ihn wurde wegen „kapitulantenhaften Verhaltens“ ein Disziplinarverfahren eingeleitet.

Im April konstatierte das MfS eine „Ablehnung des RSW durch breite Kreise der Bevölkerung“, kurz darauf äußerte die Synode der Sächsischen Landeskirche „schwerwiegende Bedenken“ gegen das Werk. Die SED-Stadtleitung beschloss einen neuen Maßnahmeplan. Funktionäre übten Druck auf Kirchenvertreter aus um Anti-RSW-Gottesdienste zu verhindern. Bürger, die Eingaben geschrieben hatten, wurden diszipliniert. Bis Ende April gaben alle beteiligten Behörden ihr Okay zum RSW, renitenten Mitarbeitern wurde die Entlassung angedroht. Der Rat des Bezirkes genehmigt das Projekt schließlich mit 18 zusätzlichen Auflagen.

Demo vor dem Werksgelände – die VP schaut zu

Aber der Widerstand wurde nicht schwächer sondern stärker. In der westdeutschen Presse erschienen Artikel über das RSW, im Mai berichtete die regimekritische Zeitschrift der Umweltbibliothek Berlin (Ost) über die Proteste. In Gittersee wurden ab Juni regelmäßig Bittandachten gegen das RSW gehalten, an denen sich immer mehr Nichtchristen beteiligen. Nach der Juli-Bittandacht kam es zu einer ersten Demonstration bis vor die Tore der RSW-Baustelle an der Karlsruher Straße. Eine Einsatzgruppe von Volkspolizisten und „gesellschaftlichen Kräften“ unter Leitung des MfS hielt sich in Bereitschaft, griff aber nicht ein, wohl auch, weil die ARD Fernsehaufnahmen machte.

Noch einmal wollte die Staatsmacht derart „öffentlichkeitswirksame“ Ereignisse nicht zulassen. Das MfS schlug der SED-BL „noch umfassendere Maßnahmen“ vor. Ein erneuter Pro-RSW-Artikel wurde in der „SZ“ lanciert und mit dem Chefredakteur der „Union“ ein Gespräch geführt, weil er Artikel über die Bittgottesdienste zugelassen hatte. Weißflog musste ins Rathaus kommen. Dort machte ihm die Abteilung Inneres klar, dass man Aufnahmen durch das „Westfernsehen“ nicht mehr dulden würde. Das Sekretariat der SED-SL erarbeitete auf Basis der MfS-Vorschläge einen Plan, um künftige Demos zu unterbinden. Der Sektor Sicherheit der Stadtleitung sollte in Abstimmung mit MfS und Volkspolizei eine einheitliche Führung organisieren, um das Vorgehen der „Sicherheitsorgane“ zu koordinieren.

„Ein schlimmer Tag für Dresden“

Zur Demo waren auch Proteststicker wie "Tod sicher" im Umlauf, genäht von einer Protestgruppe. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Zur Demo waren auch Proteststicker wie "Tod sicher" im Umlauf, genäht von einer Protestgruppe. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Tatsächlich waren SED und Staatsmacht bei der nächsten Bittandacht mit einem Großaufgebot vor Ort: Staatssicherheit, Polizei und „gesellschaftliche Kräfte“ wurden in Gittersee zusammengezogen, eine Einsatzgruppe im Werk stationiert. Im Unterschied zum Vormonat spielte die Einsatzführung diese Kräfte diesmal aus. „Dieser 6. August, das war ein schlimmer, schlimmer Tag für Dresden Gittersee, da ist das passiert, was dann am 3., 4., 5. Oktober am Hauptbahnhof passiert ist“, berichtet später Weißflog. „Da waren Hundertschaften der Polizei in den Nebenstraßen, ein Wasserwerfer und Schlagstöcke. Die Wolfspelz-Leute wurden zusammengeknüppelt und 20 Leute mit der ‚Grünen Minna’ verhaftet. Nicht nur die Wolfspelz-Leute, auch Einwohner“ („Wolfspelz“ war eine regimekritische anarchistische Gruppe aus Dresden). Polizei und Stasi beschlagnahmten Plakate, auf denen es sarkastisch hieß: „Silizium – Todsicher“ oder „Bringt uns nicht SiliziUM“.

Holm Vogel von der kirchennahen Gruppe „Pax“ erzählt im Rückblick: „Die sind ganz rücksichtslos vorgegangen. Da wurden alte Omis rumgeschubst und einen Rollstuhlfahrer haben die umgekippt, der lag da mitten auf der Straße“. Ein Teilnehmer der Bittandacht, Wolfram Spiller, berichtet: „Vor dem Werk stand Polizei und Staatssicherheit. Gemischt kamen Sicherheits- und Polizeileute rüber und haben sich welche rausgeholt. Einer hat auf mich gezeigt, ich wurde dann zugeführt. Ich muss sagen, dass die Zuführungen relativ human abgingen. Es war offensichtlich, dass das auch für die Polizisten eine neue Situation war. Von prügelnden Polizisten habe ich selbst nichts bemerkt, aber das soll später anders gewesen sein“.

Auch Mitarbeiter der SED-Stadtbezirksleitung Süd waren da, sie sollten mit Bürgern diskutieren. Dazu kam es durch den Polizei-Einsatz nicht. Die unvorbereiteten Funktionäre schrieben später erbost an die Bezirksleitung: Für die Diskussion stand „nur eine Zeitdauer von ca. 3 Minuten zur Verfügung, da die Volkspolizei einschritt. Diese kurze Zeit reichte nicht aus, um mit den Bürgern zu diskutieren. Für den nächsten Einsatz muss eine bessere Koordinierung der zum Einsatz kommenden Kräfte erfolgen“.

Investitionssumme verdoppelt

Mit dem gewaltsamen Antwort der SED auf die Proteste in Gittersee brach der Widerstand der Bürger zusammen. Diskussionen gab es nun nur noch innerhalb der Kirche und zwischen Kirche und Staat. Die Bürger hätten sich mit dem Werksbau abgefunden, hieß es in einer Lageinformation für Modrow vom 17. August. Die Anwohner wurden mit Versprechen geködert, das RSW bringe für das Wohngebiet neue Telefon-, Gas- und Wasserleitungen, Läden und Wohnungen. Auch sei in der DDR das weltweit erste Bekämpfungsmittel für das früher nicht löschbare TCS entwickelt worden. Aus Italien würden absolut sichere Spezialcontainer für den TCS-Transport auf der kurvenreichen Windbergbahn importiert und in Gittersee werde man Chlorgas-Messstationen installieren.

Die Wirtschaftsführung hielt bis zuletzt am RSW fest, obwohl sich die Investitionssumme mit allen Auflagen von ursprünglich 484 Millionen Mark auf eine Milliarde Mark mehr als verdoppelt hatte. Erst mit den Wende fiel das Projekt: Ende November 1989 beschloss die Modrow-Regierung, das Vorhaben einzustellen. Jahre später wurde die Investitionsruine Teil der Keksfabrik von „Dr. Quendt“.

Das Beispiel RSW zeigt recht deutlich, wodurch viele Investitionen in der DDR zu Fehlinvestitionen wurden: Bei der Durchsetzung solcher Investitionsentscheidungen wurden die Experten vor Ort und die Bürger erst nach dem zentralen Beschluss befragt. Wenn deren Meinung dann nicht in die Vorstellungen der SED über den Segen des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes passten, wurden sie ignoriert oder diszipliniert. Der Mangel an einer gesellschaftlich anerkannten Konfliktlösungsstrategie und einer Öffentlichkeit der Projektentscheidungen verminderte letztlich die angestrebte Effizienz der Investition. Im Fall des Reinstsiliziumwerkes wurden die Probleme nur auf der technologischen Ebene gesehen und selbst diese waren aufgrund der hohen Komplexität der Investition nur mit hohen finanziellen Aufwand lösbar. Die Ängste der Bevölkerung vor der neuen Technik, das gewachsene Umweltbewusstsein und die Bedenken der Experten schoben Partei und Staatsmacht aus politischen Gründen beiseite.

Heiko Weckbrodt

Quellen: Interviews, SAPMO-Bundesarchiv, Interviews, Robert-Havemann-Gesellschaft

 

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Aus den Akten

„Durch minimalste Zündquellen brennbar“

Aus dem Brief des Prorektors Dieter Klein der Humboldt-Uni, an den Ministerrat (November 1988):

„Trichlorsilan ist/hat einen Siedepunkt von 31 Grad C, durch minimalste Zündquellen (optisch nicht mehr sichtbare Funkenbildung) in Brand zu setzen, brennt mit kalter, nicht sichtbarer Flamme, nicht löschbar (!) und bildet durch Verbrennung Chlorwasserstoff, welcher eingeatmet in Verbindung mit der Lungenfeuchtigkeit zu einem Giftgas wird, welches bei Vorkommen von 0,3 g pro qm Luft tödlich wirkt.“ Eine Menge von 20 t genüge, um eine 2 qkm große Giftwolke zu entwickelt, die erst bei einer Verbreitung auf 40 qkm „lebensbedrohliche Wirkung verlieren würde“.

Schienentransport „mit erheblichem Risiko“

Zur Gefahr eines Flugzeugabsturzes über dem RSW (MfS-Akten 1989):

„Der Standort wird direkt oder unter bestimmten Bedingungen durch Luftfahrzeuge überflogen. Grundsätzlich befindet sich über den Lagen Freital, Coschütz, Gittersee das einzige Warteverfahren des Flugplatzes.“

Aus dem Gutachten i. A. des Verkehrsministeriums (Mai 1989):

„Beim Transport von Trichlorsilan kann nicht von einer völligen Risikofreiheit ausgegangen werden. Bei der vollständigen Verbrennung von 20 t TCS entstehen ca. 5 t HCl (Salzsäure, d.R.) und ca. 10 t Chlor. Es ergibt sich ein Einwirkungsradius von ca. 1 km in bebauten Gebieten…“ Beim Schienentransport über Friedrichstadt-Freital-Gittersee gelte es, die engen Radien und den hohen Streckenverschleiß zu beachten, so „daß die Eisenbahnvariante wegen der Durchfahrung dichtbesiedelter Gebiete mit erheblichem Risiko verbunden ist“.

„Vom Klassenfeind bezahlt“

Generaldirektor Wendler vor „Willy Agatz“-Arbeitern (Juni 1989)

„Ich möchte hier ganz offen sagen, auf diesem Wege lassen wir uns nicht durch anders Denkende stören, auch wenn sie über ARD oder ZDF uns beeinflussen wollen. Wer die Technologie der Zukunft, die Mikroelektronik, die den Menschen Wohlstand, Glück und arbeitserleichternde Eigenschaften bringt, wer diese Technologie negiert… der wird, so meine ich persönlich, für ein solches Verhalten vom Klassenfeind bezahlt oder er verhält sich in höchstem Maße bar jeder Vernunft bzw. unwissenschaftlich“.

„Die Folgen können wir uns ausrechnen“

Aus einer Aufzeichnung des Rates des Bezirkes/ Sektor Staatspolitik in Kirchenfragen über ein Gespräch mit Oberlandeskirchenrat Schlichter zum RSW vom 12. April 1989:

Wir müssen mit einer Verschlechterung der Beziehung zur Landeskirche rechnen. Wenn der Veranstalter den Gottesdienst (gegen das RSW – d.R.) nicht absetzt, könnte er staatlicherseits nur durch den Einsatz von Ordnungskräften unterbunden werden oder aber der Wert staatlicher Forderungen wird inflationiert… Das Gespräch muß Kompromißbereitschaft erkennen lassen oder wir organisieren uns eine lange Zeit der Konfrontation… Praktisch können die Superintendenten den Gottesdienst nur noch aussetzen, wenn sie sich am 16.4., 17 Uhr, in die Kreuzkirche begeben und erklären, daß er auf Forderung des Staates nicht jetzt und nicht hier stattfinden darf. Die Folgen können wir uns ausrechnen.

Aus einem Vorschlag der MfS-Bezirksverwaltung vom 14.9.1989 zur mündlichen Information Modrows):

Es kann eingeschätzt werden, daß maßgebliche Kräfte der Kirche gegen den Widerstand von … * und … daran interessiert sind, daß die Aktionen gegen den Bau des RSW auslaufen und es in dieser Frage zu keinen weiteren Konfrontationen mit dem Staat kommt. Bischof Hempel und die maßgeblichen Superintendenten sind offensichtlich daran interessiert, in den Mittelpunkt weiterer Gespräche stärker Grundfragen unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen. Differenzierte Standpunkte innerhalb der Kirche gibt es offensichtlich zur Art und Weise des Auftretens gegenüber dem Staat, d.h. zu methodischen Fragen. … war offensichtlich nicht mit dem Verhalten der … und des … im Gespräch mit Staatssekretär Nendel einverstanden und es hat deshalb, streng vertraulichen Informationen zufolge, im nachhinein dazu Auseinandersetzungen gegeben.

* von Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) geschwärzt
Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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