Sonderschau in Dresden widmet sich der Frage, wie „Real Time“ und unsere Welt verändert
Dresden, 6. Januar 2018. Wie sich unsere Welt, aber auch der Mensch durch die wachsende Echtzeit-Fähigkeit von Maschinen und Technologien verändert, diesem Themenkomplex widmet sich eine Sonderschau „ECHTZEIT – Zwischen Millisekunde und Authentizität“, die bis zum 11. März 2018 in den Technischen Sammlungen Dresden (TSD) zu sehen und zu erleben ist. Das „Dresdner Zentrum der Wissenschaft und Kunst“ will damit die Kollaboration von Forschern und Künstlern in der sächsischen Landeshauptstadt stärken.
Im Fokus stehen Fragen, die der technische Fortschritt aufgeworfen hat: Schrumpft unser digitalisierter Planet nun tatsächlich zu einem Dorf, in dem dank Facebook-Postings, 5G-Funk und photonischer Technologie alle Erdenmenschen alles gleichzeitig erleben? Verschmilzt Weltgeschichte zu einer Abfolge synchroner globaler Momente? Welche neuen Ausdrucksformen eröffnen sich durch die Echtzeit-Fähigkeiten von Robotern, Datenbrillen, Supercomputern und virtuellen Welten? Aber auch: Wollen, können wir alles in Echtzeit wissen und haben?
„D.O.C. 2100“
Einen eher dystopischen Blick wirft das Kunstprojekt „D.O.C. 2100“ auf die Echtzeit-Verheißungen moderner Technologien: Benjamin Hummitzsch und Robert Richter haben aus Acrylglas, Holz, Kunststoff, Displays, Leuchten und Elektronik einen mannshohen „Direct Offspring Creator“ (D.O.C.) in einer Halle des ehemaligen Kamerawerkes aufgetürmt. Ein dumpfer Herzschlag geht von dem grünschimmernden Inkubator aus, der eben aus einem „Alien“-Film gefallen zu sein scheint. Nähert sich der Betrachter dem DOC, sieht er ein Eingabemodul: Die Maschine wartet auf die Eingabe elterlicher Zellen. Ist sie mit dem Gencode versorgt, beginnt der 3D-Drucker sein Werk, druckt binnen Sekunden ein niegelnagelneues Baby. Ist der Homunculus fertig, misst der Brüter noch die Vitalwerte aus und fordert: „Entnehmen Sie Ihren Nachwuchs zügig!“ Der Nächste wartet schon…
Installation „Phase2phase“ von TU-Mathematikern und Tänzerinnen mit dem KUWI-Preis in Dresden ausgezeichnet
Wettbewerbssieger wurde aber ein anderes Exponat: Für ihre assoziative Echtzeit-Verknüpfung von Bewegung und digitalen Strukturen haben die Tänzerinnen Cindy Hammer und Susan Schubert von der Tanz-Gesellschaft „go plastic company“ zusammen mit den Mathematikern Axel Voigt und Florian Stenger von der Technischen Universität Dresden (TUD) den diesjährigen Kunst- und Wissenschaftspreis „KUWI“ bekommen. Die Jury des „Dresdner Zentrums der Wissenschaft und Kunst“ würdigte damit die Installation „Phase2phase“.
Jede noch so kleine Regung löst Reaktion in Echtzeit aus
„Phase2phase“ entwerfe einen Raum, „in dem Menschen permanent mit einer virtuellen Umgebung interagieren“, erläuterte Kuratorin Sabine Zimmermann-Törne. „Jede noch so kleine Regung der Körper löst eine sofortige Reaktion in Echtzeit aus. Die Veränderungen der mathematischen Struktur, in der sich zwei Zustände überlagern, vermischen und wieder entmischen, schaffen eine neue Wirklichkeit.“
Echtzeit-Tanz mit organischen Maschinen-Träumen
Betritt der Besucher diese interaktive Installation, sieht er zunächst nur einen leuchtenden Boden, der organisch strukturiert anmutet. Kameras registrieren die Bewegungen des „Eindringlings“. Ein Computer berechnet aus diesen „Störungen“ von außen ein neues mathematisches Modell der dargestellten Strukturen – und ein Beamer an der Decke projiziert diese neuen Formen dynamisch verschmelzend auf den Boden. Daraus kann sich ein tänzerisches Echtzeit-Wechselspiel zwischen Mensch und Maschinen-Träumen vom organischen Leben ergeben.
Video mit „Echtzeit“-Impressionen (hw):
Weitere Exponate im Kurzüberblick:
„Osmodrama“:
… appelliert an unsere olfaktorischen Sinne: Ein Wald silberglänzender Kochtöpfe lädt ein, die Deckel anzuheben – und sich von den entströmenden Gerüchen überwältigen zu lassen. Schöpfer Wolfgang Georgsdorf wirbt mit dieser Installation für die Idee, in Dresden ein dauerhaftes Riechlabor, ein „Smeller 2.0 Olfaktorium“ in Dresden zu etablieren.
„Dunson“
…ist ein Rätsel von Michael Reindel: Ein handgeformtes Artefakt aus Gips und Metall steht als Symbol für die Datenspuren, die wir im Netz hinterlassen und die fortlaufend unseren digitalen Zwilling in Computerspeichern verformen.
„Dions Eule“
… ist ein ganz besonderes Fahrzeug, das Lion Hoffmann als Gegenentwurf zum autonomen Auto konzipiert hat: Statt den Menschen aus der Verantwortung zu entlassen, fordert seine Transport-Eule aus Metall, Holz, Motoren und Silikon den Fahrer ununterbrochen sensitiv heraus.
„Rise and Set“
…führt dem Besucher vor Augen, wie relativ die Konstrukte unseres Alltags sind. Beispiel: Wir sprechen vom Sonnenuntergang, obwohl wir wissen, dass sich nur die Erde weitergedreht hat, unser Zentralgestirn derweil unbeirrt weiter strahlt. Die Installation von Annett Gerlach visualisiert diese kosmischen Abläufe – bei Bedarf auch mit schönster Rot-Grün-3D-Brillentechnik. „Rise and Set“ entstand in Kooperation mit Prof. Michael Soffet von der TU Dresden, Nils Schmeißer vom Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR) und Jonathan vom Chaos Computer-Club Dresden (C3D2).
„Bling“
…verwandelt mit einem Arduino-Rechner und einer App das gesamte Museum in eine Großinstallation: Über die Internetseite „bling.jetzt“ können Passanten den Turm der früheren Ernemann-Kamerawerke ansteuern und in Echtzeit den Schriftzug „Bling“ blinken lassen. Matthias Lehmann hat sich dabei von der Lautmalerei der Comic-Welt inspirieren lassen, in der Worte wie „Peng“ und „Krach“ das ersetzen, was der Betrachter nicht hören kann.
Dresden will „Kulturhauptstadt Europas 2025“ werden
Die sieben Wettbewerbsbeiträge sind zugleich Puzzlestücke für Dresdens Bewerbung um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“. Und auch die Besucher haben ein Mitspracherecht: Sie können sich in der Ausstellung an der Wahl eines Publikums-Favoriten beteiligen. Der Gewinner wird zur Echtzeit-Finissage am 11. März bekannt gegeben.
Stichwort „Echtzeit“:
Genannt seien hier nur drei Beispiele unter vielen, die zeigen mögen, wie das Konzept „Echtzeit“ unseren Alltag verändert.
1. Bereits früh hatte zunächst die Computerspiel-Industrie den Begriff „Echtzeit“ als Lockmittel eingesetzt: Damit bezeichneten die Softwareschmieden vor allem Strategiespiele, die nicht mehr rundenbasiert wie ein analoges Brettspiel abliefen, sondern in denen der Spieler auf die kleinste seiner Aktionen sofort eine Reaktion durch den Computer vorgesetzt bekam.
2. „Echtzeit“ spielt aber auch eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des Mobilfunks der 5. Generation (5G): Die Forscher des 5G Labs Germany an der TU Dresden beispielsweise wollen Roboter, VR-Brillen, Autos und andere Dinge so reaktionsschnell mit Latenzzeiten unter einer Millisekunden vernetzen, dass Menschen keine Verzögerung zwischen Aktion und Reaktion mehr spüren. 5G-Vordenker Prof. Gerhard Fettweis nennt dieses Konzept „Taktiles Internet„.
3. Echtzeit-Vernetzung spüren aber viele Menschen auch heute schon, die sich per Facebook, Instagram oder andere Netzwerke mit Menschen auf anderen Kontinenten verbunden haben: Brauchte es früher Tage oder gar Monate, Nachrichten aus Asien oder Australien zu bekommen, können wir heute ohne Zeitverzug im Internet sehen, lesen und hören, was Freunde auf der anderen Seite des Erdballs gerade erleben.
Autor: Heiko Weckbrodt
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