Töten aus Opportunismus: Warum das Reserve-Polizeibataillon 61 im II. Weltkrieg mordete – und (fast) alle mitgemacht haben
Dresden, 31. August 2017. Wie konnten aus Männern, aus Polizisten aus der Mitte der Gesellschaft in der Nazi-Zeit Diebe und Mörder werden? Wie konnten sie einerseits das Selbstbild von integren Ordnungshütern hegen und im nächsten Augenblick Juden und andere Zivilisten in Osteuropa töten und berauben? Oder, plakativer formuliert: Was treibt scheinbar normale Menschen zum Bösen? Diese Fragen stellen sich über die Schrecken des II. Weltkriegs hinaus immer wieder dort, wo Bewaffnete ihre Macht missbrauchen. Man denke nur an die Terrormiliz IS, die sich teilweise aus jungen Menschen rekrutiert, die in Europa als „normale“ Jugendliche aufgewachsen sind.
Gewalt gegen Zivilisten wurde zum „Konsenprojekt“ in der Truppe
Am Beispiel des Dortmunder „Reserve-Polizeibataillons 61“, das während der Ostfeldzüge in Polen und in Russland wütete, untersucht derzeit der Historiker Jan Hendrik Issinger in seiner Doktorarbeit die dahinter steckenden Triebfedern. Im Hannah-Arendt-Institut (HAIT) Dresden hat er nun in einem öffentlichen Vortrag „Organisationskultur und Gewalt“ erste Zwischenergebnisse präsentiert. Sein Befund: „Gewalt gegen die osteuropäische Zivilbevölkerung wurde zu einem Konsensprojekt, an dem sich unterschiedliche Akteure aus verschiedensten Gründen beteiligten.“
Ältere Polizisten wollten hart wie die Jungspunde sein
In SS-Einsatzbefehlen, polizeilichen Dienstanweisungen, Beförderungs-Begründungen, Tagebüchern, Opferberichten, Protokollen von Nachkriegs-Ermittlungsverfahren und anderen Quellen hat er ein ganzes Amalgam aus Motiven gefunden: Da waren zum Beispiel die Offiziere und Unteroffiziere in der Truppe, die an der Offiziersschule schwach abgeschnitten hatten und es mangels Erfolgen nicht in die SS geschafft hatten. Sie landeten bei der Ordnungspolizei und wollten dort beweisen, dass sie auch so hart und brutal sein konnten wie die Jungspunde.
Mit Gewalt aufgewachsen
Anders als die Vorgesetzten waren dagegen nur wenige der „einfachen“ Polizisten im untersuchten Bataillon echte nationalsozialistische Überzeugungstäter. Sie beteiligten sich an Raub und Mord eher aus Anpassung, Gewohnheit und Bequemlichkeit, meint Jan Hendrik Issinger. „Gewalt war schon vor ihrem Polizeidienst alltäglich“, sagt der 30-jährige Doktorand. „Sie wurden nach soldatischen Prinzipien erzogen und erlebten den schlagenden Vater, den schlagenden Lehrer, den schlagenden Gleichaltrigen.“
Filterblasen gab‘s schon vor dem Internet
Und die Polizisten bewegten sich damals in einem Konstrukt, das die neuere Internetforschung heute „Filterblase“ nennt: Nach dem Dienst trafen sich einfache Polizisten und Vorgesetzte zu gemeinsamen Sauf-Abenden im Kasino. Dort prahlten sie wie in einem Sportwettbewerb voreinander, wer die meisten Juden erschossen hatte. Und sie bestärkten sich indirekt gegenseitig, dass das, was sie da taten, vollkommen akzeptabel, ja wünschenswert sei. Gegen andere Ansichten waren sie regelrecht abgeschottet, gegenteilige Meinungen gelangten im Krieg kaum in diese Filterblase einer weitgehend autonom agierenden Truppe. „Da spielten auch stereotype Vorstellungen der einfachen Polizisten über Osteuropa eine Rolle, über Schmutz und Chaos, in das sie als Deutsche Ordnung bringen würden“, sagt der Historiker.
Ordnungspolizei galt in der SS als Abstellgleis
Und nicht zuletzt motivierten die Offiziere ihre Polizisten auch durch Belobigungen, Orden und Urlaubsgenehmigungen, wenn sie spurten. Zudem war auch den Mannschaftsdienstgraden bewusst, dass die Ordnungspolizei in der SS als Abstellgleis galt: Mit durchschnittlich 35 Jahren gehörten die Polizisten schon zu den älteren Semestern. Der Wunsch, sich im Vergleich zu den jungen Männern der Waffen-SS zu beweisen, spielte bei vielen Polizisten durchaus eine Rolle. Kurz gesagt: Unrecht mitzumachen war für die meisten ein bequemer Weg, der auch noch Anerkennung versprach.
Für Erschießungen gab es immer genug Freiwillige
Letztlich führte diese Gemengelage aus Antriebskräften dazu, dass Vorgesetzte ihren Polizisten gar nicht befehlen mussten, bei Erschießungen von Zivilisten mitzumachen. Wer nicht wollte, konnte sich mit Zahnschmerzen oder anderen Schwächen herausreden, konnte sich drücken, das gehe klar aus dem Quellenmaterial hervor, sagt Issinger: „Aber es gab immer genug Freiwillige“
Autor: Heiko Weckbrodt
Ihre Unterstützung für Oiger.de!
Ohne hinreichende Finanzierung ist unabhängiger Journalismus nach professionellen Maßstäben nicht dauerhaft möglich. Bitte unterstützen Sie daher unsere Arbeit! Wenn Sie helfen wollen, Oiger.de aufrecht zu erhalten, senden Sie Ihren Beitrag mit dem Betreff „freiwilliges Honorar“ via Paypal an:
Vielen Dank!