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Sanfte Elektronik fürs Gehirn

Retina-Stimulator für Patienten mit Retinasitis pigmentosa, die durch Schäden an den Zäpfchen und Stäbchen im Auge nicht mehr sehen können. Foto: Heiko Weckbrodt

Retina-Stimulator für Patienten mit Retinasitis pigmentosa, die durch Schäden an den Zäpfchen und Stäbchen im Auge nicht mehr sehen können. Foto: Heiko Weckbrodt

Hector-Experten sehen große Potenziale für organische Elektronik in der „Medizin 4.0“

Dresden, 11. Juli 2017. Organische Elektronik kann die Medizintechnik auf eine neue Stufe heben: Schaltkreise und Sensoren aus dünnen, biegsamen Kohlenwasserstoff-Molekülen könnten zum Beispiel körperverträglichere Implantate ermöglichen, die für Epileptiker, Parkinson-Kranke und andere Patienten ein unbeschwerteres Leben ohne ständige Anfälle eröffnen. Das haben führende Experten der „Hector Fellow Academy“ bei einem Symposium „Medizin 4.0“ im Deutschen Hygienemuseum Dresden eingeschätzt.

Video über organische Elektronik mit Karl Leo:

Steckt schon viel Elektronik in uns

„Inzwischen steckt in vielen Patienten schon viel Elektronik“, erklärte der Akademie-Moderator und Ophthalmologe Prof. Eberhard Zrenner vom „Centrum für Integrative Neuronwissenschaften“ aus Tübingen und erinnerte an Herzschrittmacher, Cochlea-Implantate und dergleichen mehr. „Aber dabei handelt es sich um Elektronik aus der anorganischen Welt – und die mit der lebendigen Welt des menschlichen Körpers zu verbinden ist immer wieder schwierig“, räumte der Augenheilkundler ein.

Prof. Karl Leo. Foto: privat

Prof. Karl Leo. Foto: privat

Direktere Verbindung von Nervenzellen und Technik durch organische Eletroden

Im Vergleich zu klassischen Sensoren und Schaltkreisen sei organische Elektronik zwar nicht so schnell, dafür aber weich, biegsam, großflächig sogar problemlos auf die Haut auftragbar – und in ihrer ganzen Beschaffenheit viel näher am lebenden Gewebe als Silizium, betonte der Dresdner „Organik-Papst“ Prof. Karl Leo. Er spricht deshalb von einer „sanften“ Elektronik, die sich gut an den menschlichen Körper anpasse und bei Bedarf gar biologisch abbaubar sei. „Womöglich eröffnet das neue Wege für eine direktere Verbindung von Nervenzellen und Technik“, meint auch Professor Zrenner.

Solche Messfühler werden Epilepsie in den Schädel implantiert, um Gehirn-Operationen vorzubereiten. Foto: Heiko Weckbrodt

Solche Messfühler werden Epilepsie in den Schädel implantiert, um Gehirn-Operationen vorzubereiten. Foto: Heiko Weckbrodt

Computer setzt auf Strom, das Gehirn auf Ionen und Moleküle

Der französische Bioelektroniker Prof. George Malliaras geht da sogar noch einen Schritt weiter: Er arbeitet an der „École de Mines de St. Étienne“ bereits an Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer mittels organischer Elektronik, die Teil des menschlichen Gehirns selbst werden. Denn zwar können Mediziner auch heute schon Computerchips und elektronische Implantate zum Beispiel in den Schädel eines Menschen einpflanzen, um Taube hören oder Blinde wieder sehen zu lassen. Aber diese Technik funktioniert bisher mehr schlecht als recht, weil sie im Grunde versucht, zwei völlig verschiedene Konstruktionsprinzipien zu verheiraten: Die binäre Logik, starre Elektronik und die elektrischen Signale künstlicher Schaltkreise – und die in steter Wandlung befindlichen, weichen Neuronen-Netze des Gehirns, die Signale über geladene Rumpfatome (Ionen) und Biomoleküle austauschen.

Prof. Dr. George Malliaras – Leiter des Bereichs Bioelektronik, École des Mines de Saint-Étienne. Foto: Heiko Weckbrodt

Prof. Dr. George Malliaras – Leiter des Bereichs Bioelektronik, École des Mines de Saint-Étienne. Foto: Heiko Weckbrodt

„Werden genau genommen Teil des Gehirns“

„Als Ergebnis der Ionenleitung kann man Elektroden auf Basis organisch-elektronischer Materialien herstellen, die sehr effiziente Schnittstellen zum Gehirn bieten“, betonte Prof. Malliaras auf dem Dresdner Symposium. „Diese Elektroden werden genau genommen Teil des Gehirns: Sie absorbieren Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit – die salzige Flüssigkeit, in die Neuronen eingetaucht sind – und bieten eine 3D-Umgebung, in der sich Ionen im Gehirn elektrisch mit Elektronen verbinden.“

Noch teure Studien notwendig

Trotz dieser faszinierenden Perspektiven müsse sich allerdings jeder Forscher und jeder Patient darüber im Klaren sein, dass der Weg bis zum Masseneinsatz noch lang sei, unterstrich der Franzose. Denn setze man solch ein Implantat zum Beispiel ein, um sich anbahnende Epilepsie-Anfälle im Hirn durch gezielte Impulse abzubauen, lauern in dieser Technik auch Gefahren: Falsch dosiert, drohen Krampfanfälle, Atemstillstand, ja gar Selbstmord-Gedanken beim Patienten. „Wir werden viel Geld für klinische Studien brauchen“, schwant Eberhard Zrenner.

Verbindung zwischen menschlichen Nervensystem und Technik: Diese Adapter soll Prothesen möglich machen, die Empfindungen ans Nervensystem senden. Foto: Heiko Weckbrodt

Verbindung zwischen menschlichen Nervensystem und Technik: Diese Adapter soll Prothesen möglich machen, die Empfindungen ans Nervensystem senden. Foto: Heiko Weckbrodt

„Fühlende“ Prothesen geplant

Aber nicht nur für bessere und langlebigere Hirn-Implantate kann organische Elektronik sorgen, sind die Hector-Akademiker überzeugt. Der Biomediziner und Ingenieur Prof. Thomas Stieglitz von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg etwa entwickelt „fühlende“ Prothesen auf dieser Basis, die Verkrüppelten eine Art „Gefühl“ dafür geben, wenn zum Beispiel ihr künstliches Bein den Boden berührt – durch eine organische Verbindung von Nervenzellen im Bein- oder Arm-Stumpf und den Sensoren in der Prothese.. „Ich brauche dafür aber viele Kontaktpunkte zum Nervensystem“, betonte Stieglitz und setzt dabei auf organische Technologien. Auch an elektrischen Blutdrucksenkern aus organischen Materialien arbeite sein Team.

Prof. Dr.-Ing. Thomas Stieglitz – Professor für Biomedizinische Mikrotechnik am Institut für Mikrosystem-technik (IMTEK), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Foto: Heiko Weckbrodt

Prof. Dr.-Ing. Thomas Stieglitz – Professor für Biomedizinische Mikrotechnik am Institut für Mikrosystem-technik (IMTEK), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Foto: Heiko Weckbrodt

Gemeinschaftsprojekt: Organische Elektroden für künstliche Netzhaut

Ein weiteres Gemeinschafts-Projekt der Unis Dresden und Tübingen, der „Hector Fellow Academy“ und des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) beschäftigt sich mit der Frage, ob und wie organische Elektroden einen besseren Kontakt zwischen Retina-Implantaten und den Nerven erblindeter Menschen herstellen können.

Großes regionales Potenzial

Und es ist auch kein Wunder, dass die von SAP-Gründer Hans-Werner Hector gestiftete Akademie, die Spitzenforscher verschiedener Fächer vereint, solche Forschungsprojekte und Symposien in Dresden bündelt: Die sächsische Landeshauptstadt gehört zu den international führenden Entwicklungsstandorten für organische Elektronik, Sensoren, Solarzellen und Leuchten. Insofern sei, so Prof. Eberhard Zrenner, „Dresden der ideale Ort, um über die Perspektiven organischer Elektronik zu diskutieren“. Defizite habe der Standort allerdings in der medizinischen Anwendung dieser Technologie, räumte Prof. Karl Leo ein. „Das Thema hat noch großes regionales Potenzial.“

Autor: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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