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Eine Flugstunde weiter bricht die Welt zusammen

Navid Kermani, Foto: Lesekreis, Wikipedia, CC4-Lizenz, creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Navid Kermani, Foto: Lesekreis, Wikipedia, CC4-Lizenz

„Aus den Fugen“: Europa sollte sich von seiner Festungsmentalität verabschieden, meint der Autor Navid Kermani

Dresden, 16. Februar 2017. Wir leben in unser „Festung Europa „wie in einer „Gated Community“ – wie in einer jener hoch umzäunten Sonder-Siedlungen, in denen Europäer und Amerikaner in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern wohnen, um dort – abgeschirmt von all der Armut, Kriminalität und Not der Einheimischen ringsum – ein „normales“, heiles Leben führen zu können. Ähnlich wie aber auch diese „Gated Communities“ von einem Tag auf den anderen zusammenbrechen können, wenn in einem Land der Bürgerkrieg ausbricht, kann diese Bunker-Mentalität für die Europäer sehr gefährlich werden, wenn die Levante und der Mittlere Osten von Bürgerkriegen und Terror durchgerüttelt werden. Das meint zumindest der aus dem Iran stammende Kölner Schriftsteller Navid Kermani.

Einbruch der Wirklichkeit in die „Gated Community“

„Wenn wir den Einbruch der Wirklichkeit weiter ignorieren, gibt es unsere Gated Community womöglich bald nicht mehr“, warnte der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels am Mittwochabend in der Diskussionsveranstaltung „Aus den Fugen – Wie weiter nach Brexit, Terror, Trump und Aleppo? “ im Schauspielhaus Dresden. Es werde den Europäern kaum gelingen, die Flüchtlingsströme aus aller Welt abzuhalten, indem sie ihre Mauern einfach immer höher und höher bauen.

Navid Kermani, Marcel Beyer und Jeremy Adler diskutierten am 15. März 2017 über die Welt "Aus den Fugen" im Schauspielhaus Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Navid Kermani, Marcel Beyer und Jeremy Adler diskutierten am 15. März 2017 über die Welt „Aus den Fugen“ im Schauspielhaus Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

85 % Jugendarbeitslosigkeit: Ganze Generationen ohne Perspektive

Im Übrigen sei es kein Wunder, dass besonders viele junge Männer aus Nordafrika oder Afghanistan ein besseres Leben in Deutschland suchen. „Wir reden oft über die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich oder Spanien“, sagt Navid Kermani. „Aber außerhalb Europa haben in vielen Ländern 85 Prozent der jungen Leute keine Arbeit, ist Krieg – wie etwa in Afghanistan – schon seit Jahrzehnten ein Dauerzustand. Da wachsen ganze Generationen ohne Perspektive heran. Das sollten wir uns vor Augen halten: Nur ein oder zwei Flugstunden von uns entfernt bricht für viele Menschen die Welt zusammen.“

Navid Kermani, Marcel Beyer und Jeremy Adler diskutierten am 15. März 2017 über die Welt "Aus den Fugen" im Schauspielhaus Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Navid Kermani, Marcel Beyer und Jeremy Adler diskutierten am 15. März 2017 über die Welt „Aus den Fugen“ im Schauspielhaus Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Deutschland erscheint den Hoffnungslosen wie eine Insel der Glückseligen

Deutschland mit seiner Ordnung, seinem Wohlstand und seinem noch schon seit Jahren anhaltendem Wirtschaftswachstum mag da wie ein Magnet für Hoffnungslose in einer Welt wirken, die sich mitten in einer radikalen Transformation befindet. Umso bemerkenswerter erscheint es da, dass sich die Abwehrreflexe gegen die Einwanderer gerade dort verdichten, wo die Menschen selbst gerade erst radikale Transformationsprozesse durchgemacht haben: in Ostdeutschland, in Sachsen.

Stete Reibung am Andersein schärft den Blick auf die eigene Kultur

Womöglich liegt dies auch an einer gewissen Abschottungsmentalität der in der DDR Geborenen: Wer wir sind, definieren wir durch die Abgrenzung zu „den Anderen“, argumentiert Autor Kermani. „Das ist normal und gut so – Unterschiede zu erkennen, ist nicht per se schlecht.“ Doch nur an der „permanenten Auseinandersetzung“ mit der Welt „da draußen“ könne man die eigene Kultur erkennen und reicher machen.

Was Kermani unausgesprochen ließ, mochte mancher Zuhörer still hinzufügen: Womöglich fehlt den Ostdeutschen, den Sachsen und ganz besonders den Dresdnern eben die Übung darin, die Auseinandersetzung mit Fremdartigkeit als normalen Prozess zu akzeptierten.

Autor: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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