Buch leuchtet die illustre Geschichte des Lahmann-Sanatoriums in Dresden aus
Ein Autorenkollektiv des „Verschönerungsvereins Weißer Hirsch/ Oberloschwitz“ liefert mit dem neuen Buch „Dr. Lahmann Sanatorium“ ein gelungenes Zeugnis Dresdner Kurgeschichte. Wer denkt – damals vor 100 Jahren und mehr – sei alles ganz anders gewesen, hat sich kräftig getäuscht. Spätestens bei der Lektüre der ersten Kapitel der 224 Seiten langen Lahmann-Chronik wird dies wieder einmal mehr als deutlich.
Natürlich unterschieden sich die Formen, das politische Gerüst, die technische Innovation, die Wirtschaftsstrukturen, die Architektur, die Mode. Im Alltag jedoch finden sich erstaunlich viele Ähnlichkeiten der Menschen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert lebten und denen, die heute Ihr Dasein fristen.
Schon damals gab es Fettsucht, tranken Männer übermäßig viel Bier und betäubten sich Menschen mit Morphium oder anderen Medikamenten, von denen sie süchtig wurden. Schon damals wurde in einer Kur die (zumindest vorübergehende) Erlösung gesucht. Und schon damals gelang dies manchen Patienten mehr und manchen weniger, erlebten einige ein völlig neues Lebensgefühl, während andere die ganze Sache als großen Quatsch und Geldverschwendung abtaten.
Knapp am Medizinnobelpreis vorbei
Fakt ist, dass sich Dr. Heinrich Lahmann, eigentlich studierter und promovierter Schulmediziner, relativ früh der Naturheilkunde zuwandte und dabei für allerlei Wirbel und auch Innovation sorgte. Fast hätte er es auch zu medizinischem Weltruhm gebracht, doch auch hier war es damals schon wie heute: Nicht immer wurde Großes gleich erkannt. Für seine unorthodoxe Lichttherapie per eigens konstruierter Kohle-Bogenlampe wurden Lahmann und sein Assistenzarzt Peter Simon Ziegelroth (1863 bis1930) von der schulmedizinischen Fachwelt 1895 noch verhöhnt. Im Jahr 1903 erhielt der dänische Arzt Niels Ryberg Finsen (1840 bis 1904) für die gleiche Behandlungsmethode den Medizinnobelpreis.
Rilke und Kafka erholten sich im Lahmann-Sanatorium
All dies und viele weitere interessante Fakten und Begebenheiten erfahren aufmerksame Leser in dem neuen, hochwertig produzierten Buch „Dr. Lahmann Sanatorium. Bad Weißer Hirsch bei Dresden“, das zudem mit vielfältigen historischen Bildern überrascht und bislang unbekannte Einblicke offeriert. Fundiert recherchiert, übersichtlich geordnet und gut aufgeschrieben führt die Chronik durch die wechselvolle Geschichte des Lahmann-Sanatoriums, das seinerzeit international bekannt, auch vielen Literaten – unter anderem Rainer Maria Rilke und Franz Kafka – zur Genesung verhalf.
Dresden als Zentrum der Lebensreformbewegung
Einst als Frida-Bad gegründet, trifft das Sanatorium mit seinen naturnahen Kurmethoden den Nerv der Zeit. Galt doch Dresden mit als Zentrum der sogenannten Lebensreformbewegung, die sich als Antwort auf die Industrialisierung immer stärker etablierte.
Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies
Sachsen zählte damals zu den am weitesten industrialisierten und dicht besiedelten Regionen Deutschlands. Weil die Menschen in den zu schnell wachsenden Städten oft unter katastrophalen hygienischen Bedingungen litten, suchten sie in der Naturheilkunde eine Antwort auf die Frage, wie sie mit geringen Mitteln gesund bleiben konnten. „Auf die starke Entfremdung der Natur folgte die Sehnsucht nach der Natur als dem verlorenen Paradies“ schreiben die Autoren. Da kam das idyllische baumbewachsene Gelände auf dem Weißen Hirsch gerade richtig.
Selbstheilungskräfte erkennen und nutzen
Da ist sie wieder diese Parallele, ähnelt doch die ganzheitliche – nicht nur auf die Schulmedizin fokussierte Perspektive – auch dem heutigen Zeitgeist. Heilpädagogik, Yoga, Osteopathie, ganzheitliche Krebsheilkunde und sogar die regenerative Medizin, alle diese Bereiche haben in den vergangenen Jahren einen wahren Höhenflug erlebt. Das heutige Zentrum für regenerative Therapien gehört sogar zum Exzellenzcluster der Technischen Universität Dresden.
Die Selbstheilungskräfte des Körpers erkennen und nutzen, das hat sich Heinrich Lahmann damals schon auf die Fahnen geschrieben. Mit der Kraft von Wasser, Wärme, Luft, Licht, Bewegung und Ernährung wollte er das körperliche Gleichgewicht fördern und seinen Patienten zu Genesung verhelfen. Eingedenk, dass schon damals viele – vor allem wohlhabende – Menschen übergewichtig waren und sich zu wenig bewegten, erscheint dieser Ansatz nicht als Hexenwerk.
Der Korpulententisch für Übergewichtige
Umso amüsanter die kleinen Anekdoten, dass übergewichtige Patienten ihr Abendessen am sogenannten „Korpulententisch“ einzunehmen hatten; dass dieses Abendessen auch noch vegetarisch war und natürlich darüber kräftig herumgemosert wurde. Fleisch gab es nur einmal in der Woche und auch ansonsten setzte Lahmann auf Bewegung und frische Luft. Auf Bier musste selbstverständlich verzichtet werden. Immerhin entwickelte der Sanatoriumschef dabei so eine Überzeugungskraft, dass einige Patienten sich stolz mit dem Schild „saure Milch“ um ihren Hals für Ansichtskarten präsentierten.
Gut situierte Männer hackten nackt Holz
Freilich, für Außenstehende mag dies Geschehen wohl manchmal seltsam angemutet haben. „Hier hausen die Halbverrückten drinnen“, haben vorbeiziehende Soldaten oft gerufen. „Wirklich musste es den jungen Männern seltsam erscheinen, wenn überwiegend gut situierte Herren mittleren Alters halbnackt Holz hackten, in Lufthütten schliefen, wenig oder gar kein Fleisch zu Essen bekamen und dafür auch noch viel Geld bezahlten“, schreiben die Autoren.
Internationaler Durchbruch mit Baumwollunterwäsche
Lahmann glaubte daran, dass Therapien im Einklang mit der Natur (des Menschen) und die Berücksichtigung einfachster Regeln zu einem großen Maß an Gesundheit führen. Deswegen suchte er in Studien immer nach Beweisen und wurde als „erster wissenschaftlicher Naturarzt“ bezeichnet.
Mit seiner eigens entwickelten „vegetabilen Milch“ für Säuglinge, seiner Baumwoll-Unterwäsche und den Nährsalzen gelang ihm auch der internationale Durchbruch, „Dr. Lahmanns Unterkleidung“ gab es beispielsweise auch in Dependancen in St. Petersburg und Brüssel zu kaufen.
Das Sanatorium als Lazarett
Natürlich erschöpft sich das Buch nicht in der Vergangenheit. Es dokumentiert ebenso die Zeit, in der das ehemalige Sanatorium nach dem Zweiten Weltkrieg als Lazarett der Roten Armee genutzt wurde, zeigt aber auch den Verfall der einst herrschaftlichen Anlage. In einer Zeittafel sind akribisch alle Aktivitäten aufgeführt, die sowohl von Staat, Kommune und Bürgern zur Rettung des Areals angestrengt worden sind. Klar wird am Ende: Das Sanatorium ist mehr als eine ehemalige Heilanstalt, es ist ein historischer Ort, der aufgrund seiner Schönheit und Geschichte nach Erhaltung schreit.
Vom Verfall zum Wohnkomplex
Mehrere Jahre haben die Medizinhistorikerin Marina Lienert, Restaurator Christoph Schölzel, Architekt Dieter Schölzel, Historiker Michael Böttger, Ingenieurin Sybille Streitenberger und Ingenieur und Loschwitzer Ortsamtsleiter Peter Rauch sowie Ingenieur und Baywoba-Geschäftsführer Berndt Dietze an der Chronik gearbeitet. Und weil dies ein schönes Buch ist, fehlt das Happyend natürlich nicht: Die Rettung der Anlage folgt auf eine zehrende, teilweise hoffnungslose Zeit. Dem Verfall entzogen. Dem Leben zugeführt. Ob in der neuen Wohnsiedlung demnächst auch halbnackte Männer Holz hacken werden, bleibt das Geheimnis der Zukunft.
Autorin: Katrin Tominski
Werbung:
„Dr. Lahmann Sanatorium. Bad Weißer Hirsch bei Dresden. Von der Blütezeit bis zur Legende – vom Verfall zu neuer Nutzung“, Hsg.: Verschönerungsverein Weißer Hirsch/ Oberloschwitz, Friebel Werbeagentur und Verlag, Dresden 2015, ISBN 978-3936240320, ca. 30 Euro
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