Lost Places: Das alte Volksbad und die Straßenbahn-Werkstatt in Dresden-Tolkewitz verwittern seit Jahren
Dresden, 16. Februar 2016. Nicht weit vom historischen Krematorium Dresden-Tolkewitz liegt die Schlömilchstraße: ein langer Streifen aus durchlöchertem Asphalt, schiefen Pflastersteinen und alten Straßenbahnschienen, die ins Nichts führen. Umsäumt wird sie gen Westen durch ein verwaistes Industriebau-Ensemble im Jugendstil: Die Stadtvilla an der Ecke zur Wehlener Straße, das verfallene Volksbad Tolkewitz und eine große Werkstatthalle dümpeln seit Jahren im Dornröschenschlaf vor sich hin. Viele Scheiben sind eingeschlagen, die Wände schmutzig und voller Graffiti – verlorene Orte eben, die wir heute im Zuge unserer Serie über „Lost Places“ besucht haben…
Ventar will Ensemble am alten Straßenbahnhof sanieren und zu Wohnkomplex umbauen
Doch nun will ein süddeutscher Investor alle drei Bauwerke sanieren. Die Ventar Immobilien AG aus Böblingen hat die verlassenen Immobilien am früheren Straßenbahnhof Tolkewitz gekauft und will dort Wohnungen einbauen, bestätigte der Ventar-Aufsichtsratsvorsitzende Uwe Herrmann heute auf Oiger-Anfrage. Noch in dieser Woche werde das Unternehmen die Baugenehmigungen im Rathaus beantragen. Bereits 2015 geführte Vorgespräche hätten ergeben, dass den Sanierungs-Plänen grundsätzlich nichts entgegenstehe, sagte Uwe Herrmann.
DVB planen neue Straßenbahntrasse gen Striesen
Allerdings müssen die Badener berücksichtigen, dass die Stadt Dresden und die Dresdner Verkehrsbetriebe (DVB) später ganz in der Nähe eine Gleisschleife durch die Schlömilchstraße und zurück zur Wehlener Straße bauen wollen. Die Stadttochter Stesad legte jüngst dem Ortsbeirat Blasewitz langfristige Zukunftspläne für Tolkewitz vor. Und die sehen sogar eine neue Straßenbahn-Trasse bis zur Altenberger Straße, also nach Striesen, vor.
Erst Kraftwerk, dann Volksbad, dann DDR-Schießstand
Die Geschichte des verwaisten Ensembles rings um den Straßenbahnhof Tolkewitz war übrigens voller Wendungen: Das Städtische Volksbad beispielsweise ist den älteren Tolkewitzern noch gut in Erinnerung. Dabei war es um1900 eigentlich als Kraftwerk zur Versorgung des Betriebshofes errichtet worden. Als der Straßenbahnhof ab Mitte der 1920er Jahre nicht mehr auf eine eigene Energieversorgung angewiesen war, bauten die Verkehrsbetriebe das Haus 1928 zunächst zum Bad für ihre Mitarbeiter um. Später wurde aus dem früheren Kraftwerk ein „Städtisches Volksbad“. Nach dem Krieg diente das Gebäude als Hauptlager für die Straßenbahnwerkstatt Tolkewitz.
Ab 1980 zogen Teile der gewachsenen Einkaufs-Abteilung der DVB in die verbliebenen Büroräume des Bades ein. Im Keller befand sich ein Kleinkaliber-Schießstand, er gehörte vermutlich der Betriebsgruppe der „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST) in der DDR. Nachdem die DVB-Einkäufer nach Trachenberge und das Hauptlager in den neu errichteten Bahnhof Gorbitz umgezogen waren, blieb das Gebäude ab 2003 ungenutzt. Heute wachsen bereits Pilze auf den feuchten Bad-Mauern.
Wo einst Lageristen Bürostunden totschlugen
Die als Eckhaus errichtete Stadtvilla nebenan entstand bis 1889 zeitlich parallel zum Tolkewitzer Straßenbahnhof. Bauherr war die Dresdner Straßenbahngesellschaft. Die in U-Form angeordnete Wohnhausgruppe diente verschiedenen Zwecken. Sie war Wohn-, Verwaltungs- und Lagerhaus. Hier wurde beispielsweise der Einkauf der tschechischen Tatra-Straßenbahnwagen bearbeitet. Nach der Wende wurden die Büros bis 1997 nach und nach aufgegeben. Die DVB schätzen den Zustand des Hauses aber auch heute noch als „gut“ ein. Die Stadtvilla macht rundum einen grundsoliden Eindruck. Treppen, Fußböden und Fenster wirken noch stabil. An einer der Türen erinnert das beim DVB-Auszug zurückgelassene Schild daran, dass hier einst ein Lagerist der Verkehrsbetriebe müde Bürostunden totgeschlagen hat.
Nur noch Relikte von Jugendstil-Zier
Das ehemalige Volksbad hingegen machte heute beim Oiger-Besuch schon rein äußerlich einen recht kläglichen Eindruck. Indes lassen die Reste von Jugendstilelementen ahnen, was die denkmalgerechte Sanierung für ein Wunder vollbringen könnte. Drinnen: nichts als Dreck. Nein, uns umflattern nicht aus dem Tagesschlaf rüde aufgeweckte Fledermäuse, auch Sperlingskot beschmutzt nicht unsere Schuhe. Aber das ist auch klar, hier muss Tabula rasa gemacht werden.
Kran ist noch da, Wannen sind verschwunden
Dazu muss man wissen, dass „Volksbad“ nicht im Sinne einer modernen Schwimmhalle mit großen Schwimmbecken zu verstehen war: Hier standen Wannen, in denen seinerzeit all jene Tolkewitzer baden konnten, die kein eigenes Bad in ihren Wohnungen hatten… Von diesen – über Jahrzehnte vom städtischen Proletariat mangels eigener Habe zweifellos hochgeschätzten – Wannenbädern ist allerdings heute nichts mehr zu sehen. Auch die großen Zuber, in denen das Bade-Wasser erwärmt wurde, sind weg. Dafür sind wir einfach baff, weil eine komplette Krananlage über die gesamte Gebäudebreite noch immer unter der offenen Decke hängt. Die war wohl kaum für die Schwergewichte unter den Badenden im Einsatz. Die hat sicher mindestens den Kaiser, die Weimarer Republik, die Nazi-Zeit, die ruhmreiche Arbeiter- und Bauernmacht und den ganzen Wirbel um die Wende miterlebt und überlebt. Sie gehört zweifellos ins Museum!
Verlassene Künstlerkolonie unterm Dach
Im Dachgeschoss stoßen wir auf Zeugnisse, dass sich hier – ob mit oder ohne Wissen und Duldung der Vorbesitzer – die Boheme eingenistet hatte. Sicher unbezahlbare Originale noch nicht entdeckter Dresdner Künstler liegen hier herum und verdrecken. Wir entdecken auch ein Originalfoto vom ersten und zugleich letzten Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, dem Mitglied des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, dem engen Freund und Vertrauten des Genossen Josef Wisarjonowitsch Stalin, vom Genossen Wilhelm Pieck. Er hatte wohl doch bis zuletzt noch gut getarnte Verehrer hier oben!
Schaltschrank und Werkzeug schlummern in der Werkstatthalle
In Objekt Nummer 3, die ehemalige Werkstatthalle, kommen wir nicht hinein. Ein zerschlagenes Fenster gewährt aber brauchbare Einblicke: Sieht noch sehr technisch aus, eben Werkstatt! In knapp zwei Jahren sollen hier die Mieter schon auf der Couch lümmeln? Wir werden wiederkommen und uns das ansehen!
Autor: Peter Weckbrodt
Ihre Unterstützung für Oiger.de!
Ohne hinreichende Finanzierung ist unabhängiger Journalismus nach professionellen Maßstäben nicht dauerhaft möglich. Bitte unterstützen Sie daher unsere Arbeit! Wenn Sie helfen wollen, Oiger.de aufrecht zu erhalten, senden Sie Ihren Beitrag mit dem Betreff „freiwilliges Honorar“ via Paypal an:
Vielen Dank!