Wirtschaftspolitik

Aufholprozess Ost-West kann noch Jahrzehnte dauern

"Industrie 4.0" meint meist hochautomatisierte Fabriken, in der Roboter, Maschinen, Werkstücke und Produkte durch Funkchips vernetzt und flexibel bzw. dezentral gesteuert werden. Foto: Bitkom

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Ifo-Dresden-Chef sieht Aufhol-Ankündigungen in Sachsen skeptisch

Dresden, 6. Mai 2015: Die Produktivitäts-Angleichung („Konvergenz“) zwischen Ost- und Westdeutschland wird sich wohl noch über Jahrzehnte hinstrecken und vielleicht niemals vollständig erreicht: „Seit 1996 hat sich da nicht mehr viel getan“, sagte der Dresdner TU-Finanzwissenschaftler Prof. Marcel Thum im Oiger-Gespräch. „Und ich bin ehrlich gesagt sehr pessimistisch, dass sich dieser Konvergenzprozess durch wirtschaftspolitische Instrumente spürbar beschleunigen lässt“, schätzte der Chef der ifo-Niederlassung Dresden ein – auch mit Blick auf die jüngste Haushalts-Rede des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich (CDU), in der dieser eine wirtschaftliche Aufholjagd für den Freistaat avisiert hatte.

Seit 1996 hat sich kaum noch etwas getan

Gemessen an der Wirtschaftsleistung je Einwohner hatten die Länder auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in den ersten Jahren nach der politischen Wende ökonomisch noch erheblich zugelegt: Kamen sie 1991 schätzungsweise 42 Prozent des Westniveaus, erreichten sie 1996 etwa 68 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP = Summe aller erwirtschafteten Waren und Dienstleistungen) pro Kopf im Vergleich zu den Alten Bundesländern. Seitdem sind sie nur noch im Schneckentempo voran gekommen, derzeit liegen sie bei etwa 71 % des Westniveaus. Bach unterschiedlichen Berechnungen kommt das ostdeutsche Musterland Sachsen auf 70 bis 74 Prozent.

Bremsklötze: Demografischer Wandel, kaum Konzernzentralen

Prof. Marcel Thum. Abb.: ifo

Prof. Marcel Thum. Abb.: ifo

Eine Patentlösung, um diesen Aufholprozess wieder in Schwung zu bringen, kenne auch er nicht räumte der Wirtschaftsforscher ein. Selbst die Frage nach den ursächlichen Bremsklötzen sei nicht ganz einfach zu beantworten. Wesentlichen Einfluss habe zweifellos der demografische Wandel, der in Ostdeutschland stärker wirkt als in den „Alten“ Ländern: Ganze Landstriche entvölkern sich, vor allem Jüngere im berufstätigen Alter ziehen weg. Die Bevölkerung überaltert damit im statistischen Sinne, für unternehmerische Aktivitäten stehen damit weniger Fachkräfte zur Verfügung. Auch haben sich im Osten weiterhin kaum Konzernzentralen etabliert, die aber sind ausschlaggebend nicht nur für unmittelbare Beschäftigungseffekte, sondern auch dafür, wo die erwirtschafteten Umsätze abgerechnet werden.

Ausstehende Professionalisierungs-Sprünge in ostdeutschen Unternehmen

Zudem sieht Professor Thum auch ein Hemmnis in „Professionalisierungs-Lücken“ der in Ostdeutschland nach der Wende gewachsenen Betriebe. „Untersuchungen u.a. in den USA haben gezeigt, dass Unternehmen erst ab einer gewissen Größe dazu übergehen, ihre innere Organisation zu professionalisieren“, sagte er. Diese produktivitäts-fördernden Organisationssprünge seien vielerorts in Ostdeutschland bisher nicht realisiert worden: Zum einen zeige die Erfahrung vor allem in Süd- und Westdeutschland, dass es oft Jahrzehnte dauere , bis Firmen eine kritische Belegschaftsgröße von 1000 Mitarbeitern überschreiten. Seit den Unternehmensgründungen in der ehemaligen DDR sind aber erst 25 Jahre vergangen. Und viele aus der Generation der damaligen Gründer sind mit null BWL-Kenntnissen gestartet, sind heute noch am Ruder und versuchen zum Beispiel solche Aufgaben wie Buchhaltung und Marketing „nebenbei“ selbst mit zu erledigen – was der Effektivität der unternehmerischen Prozesse nicht unbedingt zuträglich ist.

Wirtschaftspolitische Hebel schon weitgehend ausgereizt

„Was es an wirtschaftspolitischen Hebeln gab und gibt, ist meist auch von den Politikern schon eingesetzt worden“, betonte Thum. Beispiele dafür seien direkte Ansiedlungs-Förderungen, Investitions-Zuschüsse, Straßenbau, Hochschul-Förderung oder die Alimentierung eigentlich nur regional bedeutsamer Flughäfen wie etwa Dresden. Gerade diese infrastruktuellen Investitionen seien bekanntlich auch nicht erfolglos geblieben, wenn man etwa an die Ballung von Logistikunternehmen am Drehkreuz Leipzig-Halle denke. Andererseits sinke aber der Spielraum zum Beispiel für Investitions- und Ansiedlungszuschüsse zunehmend – weil der Solidar-Pakt ausläuft und sich die Förderschwerpunkte der EU gen Osten verschieben.

Derzeit liegt die ostdeutsche Wirtschaft bei ca. 71 % des Westniveaus (in BIP pro Kopf gerechnet). Die pessimistische Barro-Prognose von 1991 (blau, Nr. 8) hat sich bisher als die zutreffendste gezeigt. Abb.: ifo Dresden

Derzeit liegt die ostdeutsche Wirtschaft bei ca. 71 % des Westniveaus (in BIP pro Kopf gerechnet). Die pessimistische Barro-Prognose von 1991 (blau, Nr. 8) hat sich bisher als die zutreffendste gezeigt. Abb.: ifo Dresden

Pessimistische Barro-Prognose von 1991 hat sich als zutreffend erwiesen

Eine Wirtschaftspolitik der „kleinen Schritte“ sei sicher auch für die nächste Zukunft sinnvoll, allerdings dürfe man sich davon kaum schnelle Sprünge im Konvergenzprozess erwarten, schätzte Marcel Thum ein. Er verwies auf frühere Prognosen diverser Ökonomen, die teils weit auseinander gegangen seien. Als die bisher zutreffendste habe sich eine Projektion des US-Wirtschaftswissenschaftlers Robert J. Barro erwiesen, der seinerzeit als Pessimist galt, weil er 1991 für Ostdeutschland einen sehr langsamen Aufholprozess prophezeite. Doch seine damalige Studie stimmt am besten mit dem heutigen Ist-Zustand in den „Neuen Bundesländern“ überein. Seine Projektionskurve sagt übrigens für das Jahr 2026 voraus, dass die ostdeutsche Wirtschaft dann 80 % des Westniveaus erreicht haben wird – und flacht sich immer mehr ab. Autor: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt