„Was wir sehen“: Kunsthaus zeigt Alltagsaufnahmen von Seiichi Furuya
Dresden, 31. März 2015: Das Alltagsleben im sozialistischen Dresden der 1980er Jahre aus Sicht eines Japaners reflektiert eine Fotoausstellung, die ab 2. April im Kunsthaus Dresden zu sehen ist. Der in Österreich lebende Seiichi Furuya zeigt dort bis zum 31. Mai 2015 ausgewählte Fotos, die er während seiner Zeit als Dolmetscher auf der „Bellevue“-Hotelbaustelle in den Jahren 1984 /85 geschossen hat. „Nicht als Künstler“, wie er selbst betont, sondern um das Leben in einer fremden Stadt, in einem fremden System zu dokumentieren. Entstanden sind dabei Schwarzweiß- und Farb-Aufnahmen, die oft erst beim genaueren Blick das Besondere des festgehaltenen Moments, die kleinen und großen Seltsamkeiten im DDR-Alltag enthüllen.
Elb-Dampfer unter nordkoreanischer Flagge
Der Dampfer „Dresden“ etwa, der da auf einem der Farbfotos über die Elbe schippert, könnte bei flüchtiger Betrachtung irgendwann aufgenommen sein, ein beliebiger Schnappschuss. Schaut man jedoch auf den Mast vor dem Schornstein, weht da doch tatsächlich die nordkoreanische Flagge. Hat da der wohl letzte fundamentalkommunistische Staat auf Erden ein Schiff der „Weißen Flotte“ gekapert?
Diktator ließ die „Dresden“ daheim kopieren
Weit gefehlt: 1984 besuchte der damalige nordkoreanische Diktator Kim Il Sung – der Großvater des heutigen Staatschefs Kim Jong-un – Dresden und dampferte damals gemeinsam mit SED-Bezirkschef Hans Modrow durch das Elbtal. Der Ausflug gefiel dem Diktator so gut, dass er den Dampfer „Dresden“ daheim Stück für Stück nachbauen ließ. Die schwimmende Replik sei bis heute in Pjöngjang unterwegs, hat Kunsthaus-Leiterin Christiane Mennicke-Schwarz recherchiert.
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„Kein Neues Leben“
Als Beispiel aus der Schublade „Alltags-Absurditäten“ mag Seiichi Furuyas Aufnahme eines Presseladens aus dem Dresden der DDR-Ära dienen: Zwischen „Neuem Deutschland“ (ND) und anderen SED-Verlautbarungsblättern ist da ein handgeschriebener Zettel ins Schaufenster unter das Bild von Politbüro-Greis Willi Stoph geklammert „Noch kein Neues Leben“. Ob dem Schreiber oder der Schreiberin die Doppeldeutigkeit seinerzeit klar war, weiß man nicht. Der Hinweis bezog sich aber auf jeden Fall auch auf die DDR-Jugendzeitschrift „Neues Leben“, die im Volke eben beliebter war als das „ND“.
Fotograf zog nach Dresden, um auf „Bellevue“-Baustelle zu dolmetschen
Seiichi Furuya hatte durchaus schon gewisse Vorstellungen vom „Ostblock“, als er 1984 das Angebot des japanischen Baukonzerns „Kajima“ annahm, in die DDR zu ziehen, um dort auf der Baustelle des ersten Dresdner Luxushotels „Bellevue“ zwischen japanischen Spezialisten und ostdeutschen Auftraggebern zu dolmetschen. Und doch habe ihn der Alltag im Sozialismus immer wieder zu überraschen verstanden. „Ich sah zum Beispiel immer Leute mit Einkaufsnetzen rumstehen sehen“, erzählt er. Zuerst habe er nicht verstanden, warum Menschen scheinbar sinnlos solche Taschen mit sich herumtragen, obwohl sie sichtlich gerade nichts kaufen wollten. „Ein Kollege hat mir dann erklärt, dass die Leute immer vorsichtshalber ein Einkaufsnetz dabei hatten – für den Fall, dass es irgendwo Bananen gab, damit sie sich sofort anstellen konnten. Das war lustig.“
Videoimpressionen von der Ausstellung:
Ausgelaugt von der Schicht?
Aber auch die eher bedrückenden, traurigen Momente hat Seiichi Furuya mit seiner „Leica“ damals eingefangen: Eine Frau in der Straßenbahn beispielsweise, im einen Arm ihr Kind umklammert, der andere Arm stützt ihren Kopf, ihr Gesicht spiegelt Müdigkeit – vielleicht hat sie eben eine lange Schicht im Betrieb hinter sich gehabt…
Die Pegida-Spaziergänger mit den traurigen Augen
Apropos Traurigkeit: Um diese Schau im Kunsthaus und eine weitere Werkausstellung („Gravitation“ in den Technischen Sammlungen) einzuweihen, ist Seiichi Furuya 30 Jahre nach seiner Dolmetscher-Zeit nach Dresden zurückgekehrt – und prompt in eine „Pegida“-Demo hineingeraten. Da habe er gleich fotografieren wollen und sei von einem Polizisten barsch zurechtgewiesen worden. Was sein geschultes Fotografen-Auge sofort reizte, waren die Pegida-„Spaziergänger“: „Da waren soviel alte Leute und sie hatten alle so traurige Augen“, sagt er. Sein Entschluss steht nun fest: „Ich habe meine Leica wieder geputzt. Ich werde eine Woche hierbleiben und wieder fotografieren. Dresden ist eine unheimliche Stadt – ich weiß nur noch nicht so richtig, warum.“
Autor: Heiko Weckbrodt
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