Bücherkiste, Geschichte

„Bahnhof der Tränen“: kafkaeskes Labyrinth im Herzen Berlins

Der Bahnsteig A des Bahnhofs Friedrichstraße war ab dem Mauerbau für DDR-Bürger tabu. Foto: Lisa Lorenz, Michaela Caspar, aus: "Bahnhof der Tränen", Repro: hw

Der Bahnsteig A des Bahnhofs Friedrichstraße war ab dem Mauerbau für DDR-Bürger tabu. Foto: Lisa Lorenz, Michaela Caspar, aus: „Bahnhof der Tränen“, Repro: hw

Der Historiker Philipp Springer hat das Grenzregime und Leid am Bahnhof Friedrichstraße in einem reich illustrierten Sachbuch aufgearbeitet

Er war fast drei Jahrzehnte lang der bizarrste, der traurigste Bahnhof Europas: Zwischen Mauerbau 1961 und Mauerfall 1989 ließen Reichsbahn, Stasi und Grenztruppen den S-und Fernbahnhof Friedrichstraße immer und immer wieder um, verwandelten ihn absichtlich in ein kafkaeskes Labyrinth, das kurze Verkehrswege nicht etwa fördern, sondern behindern sollte. Der Historiker Dr. Philipp Springer hat die verwundene Geschichte dieses Grenzbahnhofs an der Nahtstelle zwischen Ost und West recherchiert und in dem reich bebilderten und bemerkenswerten Band „Bahnhof der Tränen“ veröffentlicht.
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„Am 17. August 1974 fuhren Mutter und Tochter zum Bahnhof Friedrichstraße. Nachmittags um halb drei setzte sie dort das Kind auf eine Bank, drückte ihm einen Brief in die Hand und versprach: Warte hier, Mutti kommt bald wieder. Dann fuhr sie mit der S-Bahn allein in den Westen zurück.“

Tod hinterm Tränenpalast, Geiselnehmer in der S-Bahn

Die Geschichte dieses vierjährigen Mädchens, das von seiner aus der DDR geflüchteten Mutter allein auf dem Bahnsteig auf nimmer Wiedersehen zurückgelassen wurde, ist nur eine von vielen menschlichen Tragödien und teils bestürzenden Geschichten, die der wissenschaftliche Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde für sein Buch zusammengetragen hat: Über die 78-jährige Westberlinerin, die vor Aufregung tot umfiel, nachdem sie die DDR-Grenzhütten im „Tränenpalast“ passiert hatte. Über die Intershop-Mitarbeiterin im Bahnhof, die jeden Tag das Tor gen Freiheit vor Augen hatte. Über den Stasi-Werkstattmeister, der die Kontrollhütten in der Ausreisehalle erdacht hatte. Über den Geiselnehmer, der eine S-Bahn-Fahrerin zum gewaltsamen Grenzdurchbruch mit dem Zug zwingen wollte, in Verkennung der Tatsache, dass die DDR die Durchgangsgleise auf der Ost-S-Bahn-Strecke gen Westen längst demontiert hatte. Über den ostdeutschen Schüler, der beim Fluchtversuch vom Bahnviadukt sprang und schwerste Verletzungen davontrug.

Der Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße war für die Stasi das Pilotprojekt "Brücke" für die totale Kameraüberwachung. Abb.: Klaus Franke, Bundesarchiv, Wikipedia

Passkontrolle am Bahnhof Friedrichstraße. Abb.: Klaus Franke, Bundesarchiv, Wikipedia

Wichtigste Agentenschleuse im Kalten Krieg

Ein ganzes Kapitel widmet Springer auf auch der Rolle des Bahnhofs Friedrichstraße als größte Agentenschleuse Europas, über die vor allem die „Hauptverwaltung Aufklärung“ von Stasi-General Markus Wolf, aber auch der ostdeutsche Militärgeheimdienst Spione und Spionagematerial zwischen DDR und BRD hin- und herjonglierten – über die seinerzeit aber auch der Doppelagent Werner Stiller in den Westen fliehen konnte.

Der Bahnhof Friedrichstraße um 1907. Foto: Stiftung Stadtmuseum Berlin, aus: "Bahnhof der Tränen", Repro: hw

Der Bahnhof Friedrichstraße um 1907. Foto: Stiftung Stadtmuseum Berlin, aus: „Bahnhof der Tränen“, Repro: hw

Grenzanlagen wucherten in den Stadtraum hinein

Dass Fluchtversuche am Grenzbahnhof Friedrichstraße aber eher selten glückten, war auch seiner Ähnlichkeit mit einem Krebsgeschwür im Herzen Berlins geschuldet: Die Bahnanlage war schon kolossal, als sie in der Kaiserzeit entstand. Mit den Jahren bekam der Bahnhof immer mehr über- und unterirdische Verbindungen zwischen U-, S- und Fernbahn dazugebaut. Vor allem aber nach dem Mauerbau wucherte er mit seinen Grenzsicherungsanlagen immer mehr in den Stadtraum hinein. Einstige Verbindungen wurden von DDR-Seite abgeriegelt, in Einbahnpassagen verwandelt, mit immer größeren Sperren besäumt. Die Stasi spickte den Bahnhof schließlich mit 140 Kameras, weitere Hightech-Überwachungsprojekte waren vor dem Mauerfall bereits in Planung.

Am Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße deponierte Felten sein Spionagematerial - und hier wurde er schließlich auch verhaftet. Repro aus: P. Springer: Bahnhof der Tränen

Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße. Repro aus: P. Springer: Bahnhof der Tränen

Für Westberliner ein „Butterdampfer auf dem Trockenen“

Springer hat die Geschichte dieser Wucherung anhand von Stasi-Akten, Sekundärliteratur und Zeitzeugen sehr profunde in all seinen Facetten herausgearbeitet, Er geht in seinem Buch auf den Ausbau der Grenzanlagen und nie realisierte Ausbaupläne ein, auf die Fluchtversuche und Proteste, aber auch auf Aspekte dieses Molochs, die für den gemeinen DDR-Bürger gar nicht sichtbar waren: Dass der Bahnhof Friedrichstraße für Westberliner und Westdeutsche zum Beispiel auch eine Art „Butterdampfer auf dem Trockenen“ war, in dem man sich zollfrei in den ostdeutschen Intershops mit Zigaretten und Alkohol eindecken konnte, oder dass er auch als Transitschleuse zwischen der Dritten Welt und dem Westen bei Terroristen wie Flüchtlingen zeitweise sehr beliebt war.
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Fazit: faszinierendes Kapitel deutsch-deutscher Geschichte

Durch seine Faktenfülle, durch seine vielen historischen Fotos, die teils von der Stasi, teils heimlich von Reisenden geschossen wurden, aber auch seine Sicht auf Einzelschicksale ist „Bahnhof der Tränen“ ein interessanter Lesestoff nicht nur für Forscher, sondern auch faszinierend für zeithistorisch interessierte Leser. Kritisch ist allein anzumerken, dass der Autor zu ellenlangen Bandwurmsätzen neigt, die den Lesefluss ausbremsen. Ansonsten aber können wir dieses Buch auf jeden Fall zur Lektüre empfehlen: Philipp Springer hat hier ein bizarres und oft auch anrührendes Kapitel deutsch-deutscher Geschichte recherchiert und sehr fundiert niedergeschrieben. Autor: Heiko Weckbrodt

Abb.: Ch.-Links-Verlag

Abb.: Links-Verlag

Philipp Springer: „Bahnhof der Tränen – Die Grenzübergangsstelle Berlin-Friedrichstraße“, Sachbuch, Christoph-Links-Verlag, Berlin 2013, 224 Seiten mit 184 Abbildungen, 20 Euro, ISBN: 978-3-86153-719-9, eine Leseprobe gibt es hier

 

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Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt