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Die ungeschminkte DDR gefilmt

Schlafender Volkspolizist. Foto: Peter Badel

Schlafender Volkspolizist. Foto: Peter Badel

Rund 300 Dokfilme über den ungeschönten DDR-Alltag im Bundesarchiv wiederentdeckt

Dresden. Medienforscher und Dokumentarfilmer haben einen einzigartigen historischen Schatz im Bundesarchiv entdeckt: Rund 300 Dok-Filme, die in den 1970er und 80er Jahren von einem ostdeutschen Spezialteam gedreht wurden und ein kaum geschöntes Bild des DDR-Alltags zeigen. Die Dresdner Medienproduktionsfirma „Eichbergfilm“ hat erste restaurierte Ausschnitte aus diesem Fundus nun in der Dokumentation „Der heimliche Blick – Wie die DDR sich selbst beobachtete“ verarbeitet. Gestern Abend konnten über 150 Neugierige dieses Kleinod in einer restlos überfüllten Voraufführung in der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung zu sehen:

Wettlauf mit der Zeit mit dem Uralt-Rechen

Ein überzeugter Christ sitzt in einer ostdeutschen Heimwerkstatt am Töpferrad, formt einen Krug. Er spricht unaufgeregt in die Kamera der DDR-Filmleute: „Ich habe den Kriegsdienst verweigert. Und ich erwarte von meinen Söhnen, dass sie das Gleiche tun.“ Sagt’s und töpfert weiter. Heute wär das kein großes Ding. Damals, in den 1980ern, war solch eine Äußerung im SED-Staat ein enormes Wagnis. Szenenwechsel: Bauarbeiter zerren mit einem alten Rechen mühsam den Schotter für ein neues Straßenbahn-Gleisbett in Ostberlin. Hightech-Maschinen, mit der sich die DDR in TV-Propaganda-Shows wie „Wettlauf mit der Zeit“ so gerne brüstet? Fehlanzeige. Szenenwechsel: Die Kameraleute halten auf einen Jugendlichen, der sich im Stil des „The Cure“-Sängers Robert Smith wild frisiert hat und sichtlich gedemütigt dreinschaut. Aus dem Hintergrund hören wir Volkspolizisten auf ihn einreden: „Morgen ist der Kampftag der Arbeiterklasse. Da wollen wir so einen wie Dich nicht auf der Straße sehen… Wenn Du mein Sohn wärst…

 

SFD-Team sollte ungeschöntes Bild vom Aufbau des Sozialismus dokumentieren

Eingefangen hat diese weitgehend ungeschminkten Filmdokumente der hässlichen Seite der DDR vor Jahrzehnten ein besonderes Team der „Staatlichen Filmdokumentation“ (SFD): 16 Jahre lang, von 1970 bis 1986, zogen sie durch Ostberlins Straßen und hielten im staatlichen Auftrag mit der Kamera drauf: auf Elend, Einsamkeit, Wohnungsnot, auf Polizeiwillkür, verfallene Mietskasernen und unverbrämte Funktionärsdenke im ach so fortschrittlichen und zukunfszugewandten Arbeiter- und Bauernstaat. Bestimmt waren diese Aufnahmen nicht für die aktuelle Ausstrahlung im Fernsehen, sondern für die Archive. Es sollte eine propagandafreie, ungeschönte Dokumentation des „alten Lebens“ für die Nachwelt werden, damit künftige Generationen einer kommunistischen Heilswelt Jahrzehnte später verstehen sollten, wie hart der glorreiche Aufbau des Sozialismus’ doch war.

Ein Volkspolizist setzt einen unangepassten Jugendlichen mit "Cure"-Frisur unter Druck. Foto: Peter Badel

Ein Volkspolizist setzt einen unangepassten Jugendlichen mit „Cure“-Frisur unter Druck. Foto: Peter Badel

Material war lange Zeit nur Insidern bekannt

Entstanden sind so über 300 dokumentarische Filme, die erst kürzlich durch ein Forschungsprojekt im Bundesarchiv-Standort in Hoppegarten wiederentdeckt wurde. „Ein hervorragendes Beispiel für filmische Zeitzeugnisse“ über die Niederungen des DDR-Alltags, wie Medienpädagoge und Jugendforscher Prof. Dieter Wiedemann einschätzt. Und das Interesse, dieses aufgetauchte Material auszuwerten, dürfte nicht nur unter Historikern beziehungsweise DDR-Alltagsforschern groß sein, sondern auch unter einem breiterem Publikum.

Einsame und hässliche Seiten der DDR festgehalten

Denn was in diesen bisher nur wenigen Insidern bekannten Filmrollen jahrzehntelang größtenteils verborgen lag, reflektiert die Seiten des Honecker-Staats, die in der offiziellen Fernseh- und Filmproduktion überhaupt nicht vorkamen, die selbst „eingeborenen“ DDR-Bürgern allzu leicht in Vergessenheit geraten sind: Wie die Wäsche in vielen Wohnungen in den Schränken schimmelte, weil die kommunalen Wohnungsgesellschaft nicht genug Material und Leute hatte, seit Jahrzehnten undichte Dächer zu flicken. Wie hohe DDR-Funktionäre hinter verschlossenen Türen eingestanden, dass die Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft gar nicht so freiwillig ablief wie offiziell dargestellt. Wie einsam viele Menschen im sozialistischen Staat, der sich „um alle“ kümmerte, doch lebten. Wie die Häuser im Berliner Stadtteil „Prenzlauer Berg“ – heute ein Schickmicki-Trendviertel – verkamen und verfielen. Wie hässlich die Städte jenseits der Aufmarschboulevards wurden. Wie Künstler vom Staat schikaniert wurden, weil sie sich nicht ins große Kollektiv einfügen wollten… „Auf Filmstreifen gebannt, erscheint mir dieses Bild skurril – selbst wenn man all dies doch selbst damals als Alltag erlebt hat“, meint der Dresdner Dokfilmer Thomas Eichberg nach der Sichtung des Archivmaterials.

Interviewte sahen SFD-Leute eher als Verbündete

Möglich wurde dieses filmische Zeugnis wohl auch wegen des mehr oder minder offiziösen Auftrags, mit dem das SFD-Team seinerzeit agierte: Ähnlich wie auch heute eine laufende Fernsehkamera viele Menschen vor Ehrfurcht erstarren ließ, waren auch damals viele Menschen, die die SFDler vor der Linse hatten, davon überzeugt, dass „das schon seine Richtigkeit“ hat. Mit der Zusage, das gefilmte Material sei in erster Linie für geschlossene Archive gedacht, nicht für die aktuelle Ausstrahlung, und es werde nur nach Vereinbarung veröffentlicht, lösten die damaligen Dokumentarfilmer vielen DDR-Bürgern die Zunge. Die SFD-Leute seien von den Leuten wohl eher als Verbündete betrachtet worden, glauben Thomas Eichberg und die ehemalige SFD-Redakteurin Martina Liebnitz.

Auch Dienstalltag bei Volkspolizei gefilmt

Ein besonderer Coup gelang den Kameraleuten in einer Volkspolizei-Dienststelle, in der sie mehrere Tage lang den Dienstalltag filmen konnten – bis ein Vorgesetzter „da oben“ mal nachfragte und dem SFD dann doch Hausverbot erteilte: Zu wenig schmeichelhaft war wohl das filmisch dokumentierte Bild von „Volkspolizisten“, die zweifelhafte Witze rissen, Festgenommene unter Druck setzten und harsch behandelten. „Aber vielen Polizisten war es egal, dass wir das filmten“, erinnert sich Martina Liebnitz. „Sie stellten nur die Bedingung, dass ihre Vorgesetzten das Material nicht zu sehen bekamen.“ Völllig ungeschönt war das Material, das letztlich in den Archiven landete, aber dann doch nicht, wie Liebnitz einräumt: Auf Wunsch von Interviewten oder auch aus einer Selbstzensur heraus habe man manche Passagen letztlich herausgeschnitten, manche Projekte dann doch sein gelassen.

Erst Hälfte der Filmrollen restauriert

Laut Forscherin Anne Banert ist mittlerweile etwa die Hälfte dieses 300 Filme umfassenden Schatzes restauriert und digitalisiert. „Es wäre sehr wünschenswert, mehr davon zum Beispiel im Schulunterricht verwenden zu können“, hat Landeszentralen-Direktor Frank Richter schon mal Interesse angemeldet – übrigens ähnlich wie viele aus dem Publikum der Voraufführung. Thomas Eichberg bremst allerdings übergroße Erwartungen: Ein Großteil des Materials sei noch in einem unverwendbaren Zustand, sagt er. „Und die Restaurierung wird lange dauern und ist sehr teuer.“

Autor: Heiko Weckbrodt

-> Der Dokfilm „Der heimliche Blick“, der auf dem bisher restaurierten DDR-Material basiert, hat seine offizielle TV-Premiere am 17. März 2015, 22.45 Uhr, im Fernsehsender RBB.

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt