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Buch „Die Rache der Nerds“: Die ziehen unsere Kultur in den Abgrund

Abb.. UVK

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Früher galten „Nerds“* als Pizza verschlingende, picklige Jungs, der ständig nur am Computer abhängen. Heute sind sie erwachsen, sitzen an den Schalthebeln der Macht und sind der neue Feind. Das meint jedenfalls Oliver Bendel. „Das Nerdtum ist zu einer Massenbewegung geworden“, deren Erfindungen „uns in den Abgrund ziehen“, warnt der Schweizer Philosoph und Informatikethiker.

Kritisch, oft polemisch, allzuoft aber auch schlicht feinselig setzt sich Bendel mit den Konsequenzen für unsere alltägliche Lebensqualität auseinander, die eine Durchdringung der gesamten Gesellschaft mit Informationstechnologie hat. „Wir stecken unsere Ressourcen in Hilfskonstruktionen, die ein Eigenleben entwickeln“, schreibt er beispielsweise über die Omnipräsenz der Computer und prangert das dahinter stehende Paradigma an: „Ingenieurwissenschaftliches Denken“, so ist er überzeugt, „schafft das Denken an sich ab“.

Oliver Bendel. Abb.: UVK

Oliver Bendel. Abb.: UVK

 

 

Oliver Bendel: „Ingenieurwissenschaftliches Denken schafft das Denken an sich ab.“

 

 

 

Freilich belegt er seine Thesen oft eher anekdotisch, aus dem Bauch heraus. Viele Argumente wirken wie nostalgische Don-Quichotterie, wenn er etwa ein Loblied auf den flimmrigen Röhrenfernseher (anstelle des Flachbildschirms) singt, die „Nerds“ dafür kritisiert, dass sie die Telefonauskunft durch menschliche Mitarbeiter abgeschafft haben, die durch die Züge eilenden Schaffner statt der automatischen Durchsagen bei der Bahn zurück haben will. Nicht weniger automatisch drängt sich da das Bild des Pferdekutschers vor 100 Jahren auf, der über die Scheiß-Automobile schimpft, die ihm seinen Job vernichten.

Immerhin schreibt Bendel mit flotter Feder, seine Kampfschrift gegen das Nerdtum hat durchaus amüsante Züge. Und schiebt man einmal seine teils ausufernden Jugenderinnerungen beiseite, so sind viele seiner Thesen überdenkenswert, teils auch gut belegbar. Wenn er zum Beispiel das Schlagwort vom „Web 2.0“ als „Lobgesang auf das Laientum“ einstuft, ist das sicher nicht ganz von der Hand zu weisen. Auch muss man nur einmal vergleichen, welche Themen und Artikel in den gedruckten Ausgaben klassischer Abo-Zeitungen dominieren und welche Beiträge auf deren Internet-Portalen in der Lesergunst ganz oben rangieren, um die Diskrepanzen zu sehen: „Die ,Meistgelesen’-Rubrik spült die boulevardesken Artikel nach oben“, diagnostiziert Bendel – und damit hat er zweifelsohne recht.

Nuch-Werbe-Video (USK):

Aber: Sollte man dies wirklich „den Nerds“ anlasten, die dieses „Mitmach-Konzept“ technologisch ermöglicht haben? Oder ist das Internet hier nicht eher nur ein Katalysator, ein Beschleuniger für eine Interessenverschiebung innerhalb der Gesellschaft – weg von Politik und Weltgeschehen, hin zu lokaler Kriminalität, Buntem, Sport oder germanischen Topfmodellen? Man sollte Bendels Thesen eben wohl eher als Denkanstöße sehen.

Abb.: USK

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Unangenehm fallen allerdings oft rechthaberische, andere Meinungen und Lebensstile abwertende Passagen auf, wenn er zum Beispiel Blogger und Wikipedianer als Produzenten von Mittelmaß und Einheitsbrei abstempelt oder das Klischee von Nerd als „kleinem, pickligen Jungen mit Brille“, der nie eine Freundin abkriegt und seine Muttersprache nicht beherrscht, pflegt. Das mündet in regelrechte Larmoyance, da beklagt er sein Dasein als Geisteswissenschaftler, der zum Sklaven minderbegabter Nerds geworden sein. Tja, so ungerecht kann die Welt sein.

Heiko Weckbrodt

Oliver Bendel: „Die Rache der Nerds“, UVK-Verlagsgesellschaft Konstanz 2012, 296 Seiten, ISBN 978-3-86764-390-0, 20 Euro

 

* Nerd, der: <engl.; »Schwachkopf«>: (Jargon, abwertend) sehr intelligenter, aber sozial isolierter Computerfan (Auszug aus: Duden-Fremdwörterbuch)

 

Leseprobe: hier

 

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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