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Dresdner Bibliothekschef im Interview: Bibliothek der Zukunft ist keine Leihstation, sondern ein Haus der Bildung

Blick in die Dresdner Jugendbibliothek "medien@age", in der mit Hilfe der Bertelsmann-Stiftung bereits moderne Bibliothekskonzepte mit Freiräumen und Aufenthaltsqualität erprobt werden. Abb.: Medien@age

Blick in die Dresdner Jugendbibliothek „medien@age“, in der mit Hilfe der Bertelsmann-Stiftung bereits moderne Bibliothekskonzepte mit Freiräumen und Aufenthaltsqualität erprobt werden. Abb.: Medien@age

Dresden, 24. Oktober 2012: Das Internet verändert Lesegewohnheiten, trägt aber nicht das Lesen zu Grabe, meint Bibliotheken-Direktor und Berufsoptimist Arend Flemming. Mit Blick auf den heutigen „Tag der Bibliotheken“ hat der Oiger und Stammleser Heiko Weckbrodt den Direktor der Städtischen Bibliotheken Dresden, Arend Flemming*, ausgefragt: Wo er die Zukunft der kommunalen Leihbüchereien sieht, was er von digitalen Büchern (eBooks) hält, was er und seine Kollegen der „Generation Internet“ zu bieten haben.

Sie sind nun schon seit 20 Jahren Chef einer der größten kommunalen Bibliotheken in Ostdeutschland, haben in dieser Zeit bereits einen tiefgreifenden Wandel eingeleitet. Wie aber sieht die Bibliothek der Zukunft aus?

Arend Flemming. Abb.: Lesestark!

Arend Flemming. Abb.: Lesestark!

Arend Flemming: Sie ist kein Buchmuseum, keine Ausleih-Station. Die Bibiotheken werden sich konzeptionell breiter als Bildungseinrichtung positionieren müssen, um ihre Existenzberechtigung in der modernen Gesellschaft zu beweisen. In der kommunalen Bibliothek der Zukunft werden nicht Bücher für die nachfolgenden Generationen aufbewahrt – das machen die wissenschaftlichen Bibliotheken. Auch wird sie keine schlichte Ausleih-Station für Bücher sein. Vielmehr liegt ihre Stärke in der Beratung, in der Kompetenz ihrer Bibliothekare. Sie ist ein Ort, an dem sich Junge und Alte treffen. Und durch Partnerschaften mit anderen Bildungseinrichtungen wie der Volkshochschule, den Kitas und Schulen zum Beispiel, ist sie eine Ort gemeinsamen Lernens und der Leseförderung. Droht denn nicht die Gefahr, dass die Bibliotheken vielleicht irgendwann nur noch Randgruppen erreichen, als eine Art Instrument, um Defizite auszugleichen, die freier Markt und Gesellschaft nicht zu schließen vermögen?

Arend Flemming: Nein – kommunale Bibliotheken stehen in der Mitte der Gesellschaft, werden von Jungen wie Alten genutzt, fördern ehrenamtliches Engagement und bieten eine kollektive Möglichkeit, sich zu bilden. Defizitausgleiche gehören natürlich auch dazu – indem wir zum Beispiel die Lesefreude von Kindern aus bildungsfernen Familien fördern, in denen sonst nie gelesen wird. In Dresden mag das noch kein so großes Problem an. Aber gucken Sie sich nur mal Berlin-Kreuzberg an…

Sie kennen sicher auch all jene Studien, die eine abnehmende Fähigkeit der jüngeren Generation diagnostizieren, sich auf längere Texte zu konzentrieren. Ein Buch ist wohl das Beispiel par exellence für einen langen Text…

Arend Flemming: Ich bin da Optimist. Ich kenne die pessimistischen Prognosen, teile sie aber nicht. Sicher haben sich die Lesegewohnheiten geändert. Das ,Internet-Lesen‘, die mangelnde Konzentrationsfähigkeit, das schnelle Springen und Abspringen sind nicht wegzudiskutieren. Aber unsere Leihstatistiken sprechen eine andere Sprache: Belletristik und Kinderliteratur sind enorm gefragt. Das echte ,Blätterbuch‘ hat keine schlechte Ausleihzahlen. Eher bin ich skeptisch, dass sich das haptisch so andere eBuch wirklich durchsetzt – jedenfalls für lange Romane.

Apropos eBook: Der Internethändler Amazon hat kürzlich seine Leihbücherei in Deutschland freigeschaltet, während der Deutsche Bibliotheksverband Alarm schlägt, die Verlage würden durch unverschämte Preise für Leih-eBücher die Bibliotheken vom eBuch-Markt ausschließen. Droht Leihbüchereien in diesem Wachstumsmarkt das Abseits?

eBuch-Lesen findet jetzt auch in Deutschland mehr Resonanz. Abb.: Amazon

eBuch-Lesen findet jetzt auch in Deutschland mehr Resonanz. Abb.: Amazon

Arend Flemming: In der Tat gibt es Verlage, die von uns für eBooks doppelte Ladenpreise haben wollen. Das ist nicht akzeptabel. Der Bibliotheksverband hatte für solche Themen extra eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der auch der Chef unserer Dresdner eBibo Mitglied war. Er hat mir nun erzählt, dass sich die AG aufgelöst hat – weil der Börsenverein des Buchhandels nicht mehr mit uns reden will. Das ist sehr bedenklich, wenn man nicht einmal miteinander reden will.

Andererseits: Wenn der freie Markt ein funktionierende eBuch-Leihsystem aufbaut – warum sollten wir dann mit Steuergeldern das gleiche tun? Ich sehe die Bibliotheken der Zukunft ohnehin eher als Beratungs-Tankstellen. Ich breche jedenfalls nicht in Tränen aus, wenn das eBook-Geschäft private Wege geht.

Aber nicht nur durch die technologische Marktentwicklung, sondern auch durch die Kassenlage der Kommunen könnten die Bibliotheken unter Druck geraten. 2019 läuft der Solidarpakt aus, die Konjunktur flaut anscheinend ab. Kann sich da Dresden überhaupt das – im Vergleich zu vielen West-Städten – recht dichte Stadtteil-Bibliotheksnetz auf Dauer leisten?

Arend Flemming: Unser Netz arbeitet effektiv, das zeigen die guten Ergebnisse im Bundesvergleich BIX immer wieder. Ich bin überzeugt, dass dieses dezentrale Netz erhalten bleiben kann und muss: Bürgernähe und Wohnortnähe sind ein wichtiger Schlüssel, dass die Bibliotheken solch einen starken Rückhalt in Dresden haben und behalten.

Sie haben von der Zukunft der Bibliotheken als Bildungseinrichtungen gesprochen. Was konkret stellen Sie sich darunter vor?

Arend Flemming: Dieses Konzept wollen wir künftig im Kulturpalast demonstrieren, wenn dort Haupt,- Musik- und Jugendbibliothek zusammenziehen. Dort stellen wir zum Beispiel Selbstverbuchungsautomaten auf und verzichten auf die klassische Leih-Theke. Dadurch sparen wir dort genug Arbeitszeit, um dafür die Öffnungszeiten auszudehnen. Wir denken da an Montag bis Sonnabend jeweils von 10 bis 20 Uhr. Konzeptionell möchten wir dort den Weg weitergehen, den schon die Jugendbibliothek ,medien@age‘ eingeschlagen hat. Es soll auf zwei Etagen sechs selbstständige Bereiche für Kinder, Jugend, Belletristik, Sachbücher, Reisen und Musik geben, von selbstständigen Teams organisiert. Dort stehen nicht Bücherregale im Mittelpunkt, sondern die Aufenthaltsqualität.

Und das kann man sich wie vorstellen?

Arend Flemming: Wir wollen den Besuchern Raum lassen. Es wird individuelle Lernplätze, aber auch Gruppenkabinen geben, neuartiges Mobiliar, das es so noch nirgendwo gibt, vielleicht sogar Laptops, die man sich am Eingang holt und mit denen man dann dort arbeitet, wo man Lust hat. Ein Konzept für die mobile Gesellschaft von heute und morgen eben.

(Hinweis: Weitere Auszüge aus dem Interview sind in der heutigen Ausgabe der „Dresdner Neuesten Nachrichten“ zu finden)

Stichwort Städtische Bibliotheken Dresden

* Arend Flemming ist seit der politischen Wende Direktor der städtischen Bibliotheken Dresden. Diese gehören heute mit fünf Millionen Ausleihungen pro Jahr und über 72.000 aktiven Nutzern zu den größten kommunalen Bibliotheken in Deutschland – und zu den leistungsfähigsten und gefragtesten, wie zahlreiche Spitzenplatzierungen im bundesweiten Bibliotheken-Vergleich „BIX“ des Deutschen Bibliothekenverbandes mehrfach gezeigt haben.

In den reichtlich 20 Jahren seit der Wende hat es harte Einschnitte gegeben, so wurden insgesamt 11 Filialen aus Kostengründen geschlossen. Zwischenzeitlich fielen die Ausleihzahlen von rund zwei Millionen pro Jahr zu DDR-Zeiten auf eine Million Entleihungen nach der Wende. Dass sich diese zentrale Messzahl inzwischen auf 5,5 Millionen Entleihungen verfünffacht hat, liegt auch an einem Modernisierungsprozess: Der rasche Umstieg von der Lochkarten- auf EDV-Verleihtechnik, der Aufbau einer Jugendbibliothek mit sehr modernem Konzept, der Aufbau einer virtuellen Filiale – der Internetbibliothek „eBibo“ -, Kooperationen mit Kitas und Schulen (u. a. Projekte wie „Bilderbuch-Kino“) und Leseförderprojekte gehören dazu. Aber auch die dezentrale Entscheidungen der Bibliothekare vor Ort in den 22 Filialen über Buchanschaffungen und Veranstaltungen. hw

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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